Ich habe einmal ein Tier in den Händen gehalten, das nicht aus Draht war, aus buntem Plastik oder Kunstfell. Ein richtiges, ein echtes, aus Fleisch, aus Blut, aus Knochen.
Das muss ich dir im Vorhinein sagen, sonst verstehst du die Geschichte nicht.
Ja, ich weiß, das klingt unglaubwürdig – deshalb habe ich es dir auch nie erzählt. Du hättest mit den Augen gerollt und gesagt, ich hätte zu viel Fantasie, hätte die schon als Kind gehabt. Ich habe immer gesagt, ich reise hoch zu den Sternen und finde dort ein neues Zuhause für uns beide. Aber wen wundert das mit der Fantasie, mit der Hybris und dem Urvertrauen, das vielleicht nur ein anderes Wort für Hybris ist. Ich heiße Andromeda! Andromeda, die Galaxie. Andromeda, die Prinzessin, die aus dem Schlund des Ungeheuers gerissen wurde.
Aber unser Ungeheuer haben wir selbst gemacht, es hat Tentakel aus öligem Schlick und Kohlestaub, es drückt uns die Luft aus den Lungen und verbrennt uns mit seinem Feueratem. Keine rachsüchtige Gottheit hat es aus seinen Unterwassertiefen gelockt, uns für unsere Hybris zu strafen, nein, statt-dessen ist die Hybris zum Grund, zum Schöpfer und Symptom unseres Untergangs geworden, als wäre das hier nicht die Wirklichkeit, sondern die Pointe eines düsteren Lehrgedichts. Doch in diesem Gedicht sagt Andromeda, ich lasse mich nicht retten, ich rette mich selbst und mein närrisches Volk gleich dazu. Und habe ich gelogen?
Auch das mit dem Tier ist nicht gelogen, nur sehr unglaublich. Es muss einfach eines der letzten gewesen sein. Ein Otter, mit winzig kleinen Elfenbeinkrallen, einem Fell, das nass wie Öl glänzte und mit einem kleinen, echten, pulsierenden Herzen. Am deutlichsten aber erinnere ich mich an seine Augen. Groß und feucht schimmernd, ängstlich natürlich, aber auch mit einem Ausdruck … einem Ausdruck von Erbarmen.
Unglaublich, nicht wahr? Aber willst du mich Lügnerin nennen in dieser Sache, wo ich doch tatsächlich zu den Sternen geflogen bin? Wo ich doch diesen Planeten gefunden habe, ein neues Zuhause für uns, emeraldgrün und blau und wunderschön?
Meine Geräte zeigen mir eine Sauerstoffsättigung von 15 Prozent an, eine Gravitationskraft von 5,403 und eine Schadstoffbelastung gegen 0 tendierend. Doch ich schaue nicht auf meine Geräte. Ich schaue hinein in ein Kaleidoskop von Farben, die mich taumeln lassen.
In der Luft flirren goldene Funken, Sporen einer fremdartigen Flechte vielleicht, doch im Licht der beiden Monde sehen sie aus wie eine ganze Heerschar Glühwürmchen. Der Boden unter meinen Füßen wirkt kristallin, er schimmert altrosa und ist so glatt, als ginge ich über polierten Rosenquarz. Aus den Spalten und Ritzen quellen fedrige, bleiche Farnwedel hervor und Erde, feucht und schwarz. In der Senke jenseits der steinigen Anhöhe, auf der ich gelandet bin, schwingen Pflanzen sich in die Höhe, um sich weit und fächerförmig auszubreiten. Ich weiß nicht, ob das Bäume sind oder Pilze, aber sie opaleszieren wie Libellenflügel, in allen Facetten von Tiefseeblau. Zwischen diesen schillernden Pflanzen, die vielleicht Bäume sind, vielleicht Pilze oder beides … sehe ich … Wasser! Über den rosa Kristall springt es in plätschernden Quellen und haftet als Tautropfen an den Spitzen der Farne.
Es ist, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Wie bei diesem Spiel, mit dem wir uns als Kinder ganze Tage vertreiben konnten: Einer stellt sich mit beiden Füßen fest auf Omas Vorleger, der andere packt mit beiden Händen den geklöppelten Rand. Viel Gekicher, ein kräftiger Ruck – und schon lande ich auf dem Hintern.
Nur mein Steißbein schmerzt diesmal nicht, weil der Raumanzug jeden Stoß dämpft. Ich lege die schweren Handschuhe ab und grabe alle zehn Finger in die feuchte Erde, ich nehme meinen Helm ab und atme diese neue Luft, die satt ist und rein. Ein neuer Planet. Ein neues Zuhause.
Was dann passiert ist, fragst du dich? Diese Frage muss ich wohl beantworten, damit du die Geschichte verstehst.
Es hat sich angekündigt mit dem Rascheln von Farnwedeln und einem leisen, zirpenden Laut, der mich dazu brachte, den Kopf zu heben. Wahrscheinlich hat es unterhalb meiner Anhöhe Wasser getrunken (Wasser!) und ist von meinem Lachen herausgelockt worden.
Ich verstehe natürlich, dass du wissen willst, wie es aussah. Aber … wie beschreibt man ein Geschöpf mit Worten, die in einer anderen Welt erfunden wurden, um die Geschöpfe und Phänomene dieser anderen Welt und nur dieser zu beschreiben?
Letztlich kann ich nur beschreiben, was mir vertraut erscheint, von irgendwoher: den kleinen, emeraldgrünen Federbesatz auf seiner Brust. Die feinen Härchen in seinem Gesicht, die vielleicht etwas wie Schnurrhaare waren, vielleicht aber auch etwas wie die Antennen eines Tiefseefisches. Das Grillenzirpen, das es zur Begrüßung ausstieß und … seine Augen. Tausendfach seine Augen. Groß und schwarz, feucht schimmernd und ohne Angst. Mit einem Ausdruck von Erbarmen.
Ein letztes musst du noch wissen, Bruder, du weißt schon, um die Geschichte zu verstehen: Der kleine Otter ist in meinen Händen gestorben. Erstickt von diesem unseren Ungeheuer, erstickt in Öl und Kohlestaub. So wie du in meinen Händen gestorben bist, ein wenig später nur.
Also habe ich mich umgedreht. Ich habe mich umgedreht und bin zurückgegangen, zurück zu meinem Raumschiff, zurück in die Schwärze zwischen den blinzelnden Sternen.
„Andromeda! Statusmeldung wird angefordert“, schallt durch die Leere eine blecherne Stimme.
Und ich antworte ihr: „Unbewohnbar. Sauerstoffsättigung gegen 0. Kein Anzeichen von Leben.“
Autorin / Autor: Alisa W.