Grillenzirpen. Ein leichter Windstoß lässt die Blätter rascheln und neigt die hohen Gräser. Vereinzelte Rufe der Tiere der Wälder und Wiesen hallen durch die Dunkelheit. Und wer dem kleinen Pfad am Bächlein folgt und an einer verwunschenen Eiche den Aufstieg beginnt, der wird dort, in manchen, besonders klaren Nächten, ein kleines Mädchen finden, das just unter dem baumbestandenen Grat der Hügelkette zwischen langen Grashalmen liegt, den terrestrischen Wundern nicht abgeneigt, denn wenn sie ehrlich ist, wären die warmen Sommernächte und die wundersame Natur genug Grund, dort zu liegen, doch den Blick immer nach oben gewandt. Ad Astra. Und wenn man sie dabei beobachtet hätte, dann hätte man das Funkeln der Sterne auch in ihren Augen erkennen können. Ein kleines Mädchen nur, sie im Vergleich zur erschlagenden Größe des Kosmos winzig zu nennen, wäre eine maßlose Übertreibung, und doch mit Träumen größer als jedes Sonnensystem. Ein ziemlich schwieriges Kind für eine bodenständige Familie wie ihre, doch ihre verständnisvollen Eltern ließen ihr alle Freiheiten. Und ein Jahrzehnt, die erste Liebe, und eine Schullaufbahn später, schaut sie des Nachts noch immer zum Firmament und ist überwältigt und verzaubert von der Schönheit tausend funkelnder Sterne. Und sie weiß, dass sie einmal selbst da oben sein muss. Im Weltraum.
Stille. Absolute Stille. Eine blaugrüne Kugel, umgeben von ewiger Finsternis, und doch getränkt in Licht. Und sie funkelt, denkt sie. Sie funkelt schöner als jeder Edelstein. Hunderte, nein, tausende Lichter leuchten auf und verglühen sogleich. Und bevor sie sich selbst der Ewigkeit hingibt, schweifen ihre Gedanken noch ein letztes Mal zurück.
Der Geruch von frischem Kaffee. Das Rascheln von Unterlagen. Das Klackern von Stiften. Das Klicken der Aufnahmegeräte. Und die Blitze, die blendenden Lichter, von überall. „So hab ich mir den Job als Astronautin nicht vorgestellt“, denkt sie sich mit vor die Augen gehaltener Hand, während sie zum Rednerpult strebt.
„Sie sind eine der jüngsten Astronautinnen, die auf die ISS fliegen. Sind Sie aufgeregt?“ Sie zögert kurz, dann lächelt sie. „Schon mein ganzes Leben.“
„Sie fliegen mit einer Falcon 9 zur ISS. Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit mit SpaceX?“ „Die Kooperation mit SpaceX läuft reibungslos und erleichtert den Raumfahrtbehörden ihre Arbeit. Speziell die wiederverwendbaren Raketen sind für uns natürlich revolutionär.“
„Russland plant ein Flottenmanöver in der Nordwestpassage. Das könnte die Spannungen mit Nordamerika erhöhen. Wie stehen Sie dazu, vor allem mit Blick auf den baldigen Austritt Russlands aus der ISS?“ „Ich bin Astronautin und keine Expertin für Geopolitik, trotzdem beunruhigt mich das natürlich. Die internationale Zusammenarbeit, auch über ideologische Grenzen hinweg, war immer ein zentraler Bestandteil der ISS. Insofern stellt der Austritt Russlands eine Zäsur für dieses Projekt dar. Natürlich hätte auch der Westen die Zusammenarbeit nochmal überdenken müssen, trotzdem ist der doch relativ plötzliche Abbruch der Zusammenarbeit bedauernswert für uns. Alle Kolleginnen und Kollegen mit denen ich gesprochen habe, haben mir das gleiche berichtet: Es ist ein einschneidendes Erlebnis, wenn man diesen Planeten einmal mit eigenen Augen von oben gesehen hat. Und jede Streitigkeit, jeder Konflikt, jeder Krieg, das ganze Konzept von Grenzen und Nationen, kommt einem fast wie ein schlechter Witz vor. Unser Planet ist fragil, und wir müssen ihn beschützen, denn, zumindest im Moment, ist er unser einziges Zuhause. Und es wäre ein Armutszeugnis, wenn die Menschheit für ihre eigene Auslöschung verantwortlich wäre.“
Die G-Kräfte beim Abheben drücken sie in den Sitz. Es ruckelt, als die Rakete die Wolkendecke durchstößt. Zusammen mit drei anderen Astronauten in einer kleinen Kapsel eingeengt, doch schon nach drei Minuten mit der unendlichen Weite des Weltraums konfrontiert. Durch ein kleines Fenster an der Seite. Acht Erdumrundungen und ein Andockmanöver später, und sie ist dort. Am Ort ihrer kühnsten Träume. Und jetzt sieht sie sie auf- und untergehen, die Sonne. 16-mal am Tag.
Hier könnte sie vorbei sein, die Geschichte. Und es wäre die Geschichte einer Gegenwart nicht weit in unserer Zukunft. Und es wäre eine Geschichte, die von einem kleinen Mädchen erzählt, dessen Kopf immer gefüllt mit Träumen und gesäumt von Sternen war. Und das seine Träume letztlich erfüllen kann. Im Dienste der Wissenschaft. Im Dienste der Menschheit. Und es wäre eine schöne Geschichte. Doch Sie haben den kleinen Einschub vergessen. Denn zu jeder authentischen Geschichte gehört, dass sie die Wahrheit erzählt. Und zur Wahrheit gehört, dass jeder Traum platzen kann. Und dass jedes Meisterstück der Architektur, die graziösesten Arbeiten der Bildhauerei, jede Skizze, jede Zeichnung, jede Malerei, jedes Werk klassischer Musik und jeder Song der modernen, und auch die Kunst, die wir Liebe nennen, jederzeit zerstört werden können. Und 8 Milliarden Menschen mit ihnen. Und das Schlimmste daran ist: Die Verantwortung dafür liegt allein bei uns.
Diese Geschichte ist nicht unsere Zukunft. Aber sie kann unsere Zukunft sein.
Und so steht sie da. Allein. In der Luftschleuse. Ohne Raumanzug. Und sie sieht wie ihre Heimat vernichtet wird. Und sie weiß nicht einmal, warum. Ein Atom-U-Boot, das den Kontakt verloren hat. Reflektionen in den Wolken. Oder einfach nur ein verrückter Despot. Es spielt eigentlich keine Rolle. Eigentlich spielt gar nichts mehr irgendeine Rolle. Ihr ganzes Leben war ihr Kopf in den Sternen und hat nur selten nach unten geblickt. Und bis man ihn ihr unter den Füßen weggezogen hat, war ihr gar nicht bewusst, wie wichtig ein Boden ist, um zu stehen. Also fällt sie. Und öffnet die Luftschleuse. Sie denkt noch einmal an ihre Familie. An die Natur bei ihr zuhause. An ihre Lieblingsmelodie. An jeden Sonnenuntergang, den sie je gesehen hat. Und sie sieht noch einmal die Erde und die Sonne. Dann wird ihr schwarz vor Augen.