Der ganz normale ALLtagswahnsinn
Wettbewerbsbeitrag von Jona M. Brotell, 22 Jahre
Eilig schob Célya die Dokumente auf ihrem Schreibtisch zusammen und versuchte sie so ordentlich, aber auch so schnell wie möglich in den richtigen Ordner einzusortieren. Sie hatte sich die Dokumentation der letzten Mondfinsternis von ihrer Kollegin auf der Erde schicken lassen. Gemeinsam arbeiteten sie an ihrer Abschlussarbeit zum lunaren Saroszyklus. Noch lange nach der Nullstunde hatte Célya an ihrem Schreibtisch gesessen und die neuen Unterlagen durchgesehen. Dabei hatte sie völlig die Zeit vergessen. Man sollte meinen, dass sie sich inzwischen daran gewöhnt hatte, dass Tag und Nacht auf der Raumstation lediglich simuliert wurden, und sie die automatische Erdrotations-Stundung nun selbst anschalten musste, wenn es `abends´ dunkel werden sollte. Aber das vergaß sie ziemlich oft. Das künstliche Sonnenlicht war ihr viel lieber als diese Zimmerlampen. Allgemein kam Célya das Konzept etwas seltsam vor. Sie konnte jederzeit von ihren Solarfenstern Sonnenlicht imitieren lassen, wozu sollte sie Nacht simulieren und dann eine Lampe anschalten? Aber vor allem die Älteren auf der Raumstation hingen eben sehr an ihrem alten Erden-Rhythmus und schalteten lieber eine Lampe an, um ansonsten Tag und Nacht erleben zu können. Célya war auf der Raumstation aufgewachsen und verstand nicht so recht, wie es einem fehlen konnte, dass mitten in einem tollen Spiel oder einer produktiven Arbeitsphase plötzlich das große Licht verschwand. Ihre Kollegin Kalani hingegen war extra für ihr Studium auf die Erde zurückgekehrt und hatte beschlossen dort zu bleiben. Kalani faszinierte aber mehr das Wetter als die Sonnenauf- und -untergänge. Aber im Moment hatte Célya für all das keine Zeit. Weil sie so lange wach gewesen war, hatte sie verschlafen. Seit dem Abschluss ihres Grundstudiums arbeitete Célya als Himmelsmechanikerin. Das Aufbau-Studium absolvierte sie nur in Teilzeit nebenbei. Und gerade war sie dabei zu spät auf Arbeit zu kommen. Das würde Ärger geben, dabei waren heute auch noch die Inspektionen der Gravitationskraftzellen an der Reihe. Célya musste mit ihren Kollegen unter anderem die Route der riesigen Raumstation berechnen. Die Kepplerschen Gesetze waren für sie so etwas wie das kleine Einmaleins. Schließlich durften sie auf der Fahrt nicht in die Umlaufbahn eines Planeten geraten oder die Geschwindigkeit eines Rotationsabschnitts falsch berechnen, sodass sie dem Gravitationsfeld eines Planeten zu nah kommen würden. Dennoch mussten die Kraftwerke der Raumstation ausreichend Gravitation abbekommen, damit sie die Station mit Energie versorgen konnten. Sonnenlicht war schließlich nicht jederzeit als Energiequelle verfügbar und für Biogasgeneratoren hatte ihre Raumstation nicht oft genug Kontakt mit Transportschiffen. Genau deshalb war die Arbeit von Célya und ihren Kollegen auch so wichtig. Sie mussten einen Kurs berechnen, der ungefährlich war, aber auch so wenig Manövrierinstanzen beinhaltete wie möglich, denn die waren kostspielig. Kurz gesagt, am besten sie fanden eine gerade Linie. Nicht immer einfach, vor allem, wenn sie gerade in weit entfernten Ecken der Milchstraße unterwegs waren, mit Planeten, über deren Umlaufverhalten keine Langzeitbeobachtungen existierten. Natürlich gab es eine Kapitänin und die Kommandozentrale war rund um die Umlaufzeit belegt, aber sollten sie doch ein aufwendiges Ausweich-Manöver starten müssen, würden die Forschungseinrichtungen Probleme mit der Energieversorgung bekommen. Im schlimmsten Fall würde auch der Krankenstation der Strom ausgehen. Das alles war Célya natürlich sehr wohl bewusst. Sie hatte diesen Job nicht durch Glück bekommen. Sie arbeitete gewissenhaft und war sich ihrer Verantwortung jederzeit bewusst. Nur schaffte sie eben nicht immer, vor der nächsten Arbeitsphase ausreichend zu schlafen. Vor einigen Jahren hatte es den Vorschlag gegeben, den galaktischen Tag um einige Stunden zu erweitern. Ohne Sonnenphasen war die Unterteilung der Zeit in Stunden, Tage und Jahre schließlich eher etwas Traditionelles. Am Ende war diese Idee allerdings verworfen worden, da die Kommunikation mit anderen Raumstationen und der Erde nicht verkompliziert werden sollte. Außerdem gab es immer wieder junge Erwachsene wie Kalani, die auf die Erde zurückkehren wollten. Vorher nach einem völlig anderen Zeitzyklus gelebt zu haben, würde diesen Schritt sehr erschweren. Deshalb war die Erden-Taktung der Zeit auch für die überall entstehenden neuen Planeten vorgeschrieben worden. Nach ihrem Abschluss würde Célya bei den Einrichtungen dieser künstlichen Planeten mithelfen können. Endlich hatte sie alle notwendigen Unterlagen zusammen und machte sich eilig auf den Weg zur Tramstation. Normalerweise lief sie den Weg, oder nahm das Fahrrad. Sie wollte schließlich würdigen, wie viel Mühe sich die Naturierungs-Abteilung gab, um Pflanzen auf der Station auch im Stadtbild zu etablieren. Bisher waren die Pflanzen an Bord hauptsächlich für die Nahrungsgenerierung und die Sauerstoffproduktion vorhanden gewesen. Aber heute war Célya eben spät dran. Sie schaffte es gerade noch so in die nächste Bahn. Wie durch die Entstehung eines 70 Sonnenmassen schweren schwarzen Lochs schaffte sie es tatsächlich noch pünktlich. Alles lief reibungslos und am Nachmittag saßen sie zu fünft im großen Konferenzsaal und aßen Bohnenkuchen. Da sie hier nur selten allein waren, nutzten sie die Gelegenheit, die Fenster auf Durchsicht zu schalten und betrachteten das weite Universum um sie herum. Die Station der Himmelsmechaniker lag nämlich direkt an einer der Außenseiten der Raumstation. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten sie tausende Sterne und auch zwei Zwillingsplaneten sehen, denen sie gerade recht nah waren. Célya musste an die Kinderbücher ihrer Großeltern denken, die noch vom Leben auf der Erde erzählten. Für sie war das nur ein ganz normaler Tag gewesen. So sah eben ihr Alltag aus, seit sie Teil des Universums war. Aber für die Leute von damals wäre wohl selbst ihr ganz normaler Alltag ziemlich aufregend gewesen.
Alle Infos
Die Über All Lesung
Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen
Die Über All-Preisträger:innen
Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen
Die Über All Jury
Teilnahmebedingungen
Preise - Das gibt es zu gewinnen!
Schirmherrin Dr. Suzanna Randall
EINSENDUNGEN
Autorin / Autor: Jona M. Brotell