Tante werden ist nicht schwer – oder doch?
Gemischte Gefühle auf einer Neugeborenen-Abteilung
Ich betrete die große Vorhalle und versuche vergeblich, mich in dem verwirrenden Schilderwald zu orientieren. Ich bin etwas nervös und schaffe es einfach nicht, die ganzen Zahlen und Abkürzungen zu entziffern. Ich trete an die Info. Der Mann auf der anderen Seite der Glasscheibe schäkert mit einer mindestens 60-jährigen Kollegin und wirkt wenig erfreut als er mich bemerkt. Trotzdem erklärt er mir den Weg zur Entbindungsstation. Da ich in Aufzügen für gewöhnlich von klaustrophobischen Anfällen heimgesucht werde, schlage ich den Weg zum Treppenhaus ein. Während ich Stufe für Stufe erklimme, denke ich kurz darüber nach, dass der Beruf der Krankenschwester wohl nicht unbedingt für mich gemacht ist. Ebenerdige Krankenhäuser sind höchst selten… Aber ich bin ja nicht hier um mir über eine mögliche Karriere als neue Schwester Nikola Gedanken zu machen. Ich öffne eine Flügeltür und stehe plötzlich im grün-gelben Flur der Neugeborenenetage.
*Genau dieses Gefühl im Bauch wie jetzt*
Ich krame meinen zerknitterten Notizzettel aus meiner Hosentasche. Ich muss das Zimmer Nummer 15 suchen. 15… Genau so alt war ich, als ich das letzte Mal hier war. Um genau diese Uhrzeit bin ich damals auch genau diesen Flur entlang gewandert. Genau dieses Gefühl im Bauch wie jetzt. Eine Mischung aus Vorfreude, Unsicherheit und Neugier. Jetzt ist meine Nichte, der Grund, warum ich damals schon einmal hier war, schon 5 Jahre alt. Wie die Zeit vergeht… Plötzlich fühle ich mich alt. Und einsam, weil mir immer wieder glückliche Pärchen entgegenkommen, die meist kleine durchsichtige Kästen auf Rollen vor sich her schieben. Darin liegt, unter einer dicken Deckenschicht vergraben, ein kleines zusammengerolltes Etwas, manchmal in blauen, manchmal in rosa Strampelanzügen verpackt. Die stolzen Eltern küssen sich, halten Händchen und linsen immer wieder hingerissen in ihre Box auf Rollen. Der Gedanke an durchwachte Nächte mit vollen Windeln statt trauter Zweisamkeit und dem Einsatz der Milchpumpe statt dem allabendlichen gemütlichen Glas Rotwein scheint noch nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen zu sein. Stattdessen bricht meine Werbeschädigung durch und ich meine, einen Vater ein stolzes „Meine Altersvorsorge!“ raunen zu hören.
*Irgendwie fühle ich mich fehl am Platz*
Es riecht nach Desinfektionsmitteln, Babypuder und Mittagessen. Ein Zivi eilt über den Flur. Auch er schiebt einen Wagen vor sich her, doch statt einem Baby transportiert er Fischstäbchen mit Kartoffelbrei für die Stationsschwestern. Ich nehme an, dass manchen Müttern so ein Teller Essen lieber gewesen wäre als ein schreiendes Neugeborenes. Schließlich stehe ich vor Zimmer 15. Irgendwo ein paar Zimmer weiter kann man eine Hebamme mit einer Frau diskutieren hören. Ich atme einmal kurz durch, dann klopfe ich an und betrete den Raum.
*Mein kleines Etwas trägt einen rosa Strampelanzug*
Wenige Minuten später sitze ich am Bettrand meiner großen Schwester, die blendend aussieht, dafür dass sie vor wenigen Stunden einen Kaiserschnitt hatte. Inzwischen halte ich auch so ein kleines Etwas im Arm, so wie es kurz vorher noch in diesen Boxen an mir vorbei geschoben wurde. Mein kleines Etwas trägt einen rosa Strampelanzug. Das Gefühl in meinem Bauch hat sich verändert. Aus all den kleinen vermischten Gefühlen ist ein großes, klares geworden - Stolz. Zum zweiten Mal in meinem Leben bin ich Tante geworden. Und das, wie ich finde, von den schönsten Nichten der Welt. Und als ich das dem kleinen Menschlein auf meinem Arm auch sage, und es darauf hin meinen Zeigefinger mit seiner kleinen Faust umgreift, da kann ich die glücklichen Pärchen auf dem Flur verstehen – denn was sind schon ein paar volle Windeln gegen so ein kleines Wunder?
Autorin / Autor: schneewittchen86