"Woher kennst du Hanna?“, wollte eine nette, männliche Stimme neben Vivi wissen. Der November hatte grau seinen Einzug in die Stadt gehalten, setzte sich griesgrämig auf die Straßen und trieb die Menschen zurück in ihre Häuser. Zum Glück war das heute völlig egal! Lächelnd sah Vivi zu ihrer besten Freundin hinüber, die sichtbar im Mittelpunkt des Abends stand. In ihrem silbernen Pailettenkleid schimmerte Hanna wie magisch im Licht der Bar, während ihre Gäste sie umzingelten. „Aus dem Sandkasten. Wir haben immer nach Katzenkacke gebuddelt!“, erinnerte sich Vivi schmunzelnd und wandte sich zur Seite.
„Coole Sache!“, meinte der Sitznachbar grinsend. „Ich kenne sie aus der Uni.“ Vivi mustere ihn etwas genauer. Er hatte ein verschmitztes Lächeln aufgesetzt – was ziemlich gut aussah.
„Studiert ihr das gleiche Fach?“ - „Jep. Ich bin übrigens Eric. Du?“ Sie stellte sich ihm vor. Es dauerte nicht lange und die beiden waren in ein locker-leichtes Gespräch vertieft, das sich heiter über den Abend hinweg zog. Irgendwann näherten sich zwei Mädels der Bar, die wild über die neue Folge einer Youtuberin diskutierten, während sie Cocktails bestellten. Grinsend griff Eric das Thema auf, sobald die beiden wieder gegangen sind: „Mich persönlich machen diese Tussen ja total krank, die sich vor ihre Webcam setzen, die ganze Zeit Stuss labern und erklären, wie man Augenbrauen richtig zupft oder aus drei Zutaten ach-so-tolle Kekse backen kann!“
„Du bist also der Meinung, dass das alles Chicksen sind, die zur Verdummung der Gesellschaft beitragen?“, hakte Vivi nach, wobei ihre Stimme plötzlich einen seltsamen Unterton angenommen hatte.
„Na ja, schon irgendwie.“ Eric wurde vorsichtig. „Ich meine, sie könnten ja über sinnvolle Dinge reden, wenn sie die Zuschauer schon unbedingt volltexten müssen – nicht über ihr Lieblingskosmetikprodukt oder irgendeine Banalität, über die sie sich völlig sinnlos aufregen!“ Vivi starrte auffällig auf das Display ihres Handys, sprang von ihrem Hocker und murmelte etwas davon, dass sie dringend gehen müsste. Dann war sie verschwunden.
Gedankenverloren scrollte Vivi durch die Kommentare ihres letzten Youtube-Beitrags: Der perfekte Lidstrich. Vivis World. Trotz der hohen Konkurrenz blieben die Fans ihr treu, unterstützten und lobten sie regelmäßig. Ein gutes Gefühl – auch wenn die Meinung eines gewissen Herren immer noch an ihr nagte. Warum musste ausgerechnet Eric so eine schlechte Meinung von Youtuberinnen haben? Es war bereits eine Woche vergangen, aber sie dachte immer noch an ihn. Ihr Herz hatte so wundervoll schneller geschlagen, als er sich zu ihr gesetzt hatte. Und wie er ihr in die Augen gesehen hat...
„Verdammt!“, fluchend versuchte Vivi den Gedanken an ihn zu verdrängen, als ihr ein Link ins Auge stach. Da schien jemandem ihr letztes Video alles andere als zu gefallen.
„Das passt ja gerade perfekt!“, murmelte sie und klickte darauf. Entsetzen durchfuhr sie. Die Fotos, die sie zu sehen bekam, brannten sich in ihren Kopf. Hilflose, kleine Nager – völlig entstellt. Leidend. Warum? Die Erklärung fand sie in einigen Zeilen darunter. Die Kosmetikprodukte, die sie als ihre Lieblinge betitelt hatte, wurden eiskalt an unschuldigen Tieren getestet. Vivi sprang auf, lief hin und her, knabberte dabei nervös an ihrer Unterlippe. Kaum jemand hatte dem Beitrag Beachtung geschenkt. Solange niemand die Sachen aufpuschen würde, wäre es den Leuten egal. Was sollte sie tun? Was war richtig? Erics Worte drangen erneut in ihr Bewusstsein – sie wussten genau, was sie wollten. Klar und deutlich.
Wohlig lächelnd strahlte die Sonne durch die klaren Scheiben des Cafés in das stilvolle, farbige Besucherzimmer. Es war ungewöhnlich warm für die Jahreszeit – der Grund, weshalb viele Gäste ihre Mützen und Handschuhe zu Hause liegen lassen hatten. Nur die kleinen, grünen Tannenzweige und die roten Kerzen auf jedem Tisch erinnerten an die wirkliche Jahreszeit. Vivi musste sich eine Weile umsehen, bis sie ihn entdeckte. Eric saß in einer hinteren Ecke und winkte sie zu sich, sobald er sie sah. Etwas unschlüssig folgte Vivi der Bitte. Sie war sich nicht sicher, warum sie gekommen war. Vor zwei Tagen hatte sie seine SMS erhalten, in der er sie um ein Treffen gebeten hatte. Was hatte er ihr zu sagen? Egal, was es war, etwas in ihr hatte ihn unbedingt sehen wollen. In ihrer Magengrube kribbelte es – rosa, leichte Schmetterlinge oder graue, kranke Motten? Nervös begann sie mal wieder an ihrer Unterlippe zu nagen, während sie sich setzte.
„Hi.“ - „Hallo.“ Verlegen starrte Vivi auf das weiße Tischtuch.
„Ich hoffe, es ist nicht schlimm, dass ich von Hanna deine Nummer bekommen habe!?“ Sie schüttelte den Kopf und bemühte sich, ihn anzusehen.
„Tut mir leid, was ich beim letzten Mal über Youtuberinnen gesagt habe – es muss ja nicht für alle gelten!“
„Ist schon okay, du hattest nicht ganz unrecht.“, gab Vivi lächelnd zu. Die beiden bestellten sich Latte Macchiato.
„Am Anfang wusste ich gar nicht, was ich an Hannas Geburtstag falsch gemacht habe. Nachdem es mich einfach nicht in Ruhe gelassen hat, habe ich sie gefragt – danach war mir einiges klar!“, berichtete Eric. „Also habe ich mal nach deinen Videos gesucht und war ziemlich überrascht, als ich diesen Artikel gefunden habe.“ Er hielt Vivi sein Handy hin. Zu sehen war ein Zeitungsartikel vom letzten Freitag:
Youtuberin überrascht – Letzten Freitag äußerte sich Vivi von Vivis World unerwartet kritisch über die Kosmetikprodukte, für die sie bisher warb. Die Schminke sei vor dem Verkauf an Tieren getestet worden. Vivi entschuldigte sich und rief auf, die genannten Artikel in Zukunft nicht mehr zu kaufen. Dies löste in den letzten Stunden sowohl einen Shitstorm als auch bewundernde Kommentare aus.
„Ich muss zugeben, das hat mich ziemlich beeindruckt!“, gab er grinsend zu und griff vorsichtig nach ihren Händen, in denen immer noch das Handy lag.