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Die Heldenreise - der typische Verlauf einer Heldengeschichte.

Das Grundmuster, mit dem ich mich in diesem Kapitel beschäftige, ist viele Jahrhunderte alt. Im Laufe der Zeit wurde es mehrfach überarbeitet und hat eine Form erhalten, die sich aus mehreren, in der Erzählung von Geschichten immer wieder auftretenden Elementen zusammensetzt. Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell setzte sich intensiv mit der Struktur der von Generation zu Generation überlieferten Mythen verschiedener Völker auseinander. Dabei fand er heraus, dass sich bestimmte Plotelemente durch zahlreiche mündlich und/ oder schriftlich überlieferte Heldensagen ziehen. Diese Grundelemente machen das Dramenmodell aus, das sich „Die Heldenreise“ nennt.

Von Kindesbeinen an haben wir den typischen Verlauf einer Heldengeschichte in Märchen kennengelernt: Der Held (bzw. die Heldin) wird aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen und begibt sich auf eine Reise voller Gefahren. Er oder sie muss Hindernisse überwinden, Ängste besiegen, gegen menschliche Widersacher oder übermächtige Gegner wie Drachen und Dämonen kämpfen und ein Ziel erreichen. Am Ende der Reise hat der Held oder die Heldin eine persönliche Veränderung und Entwicklung durchgemacht, wodurch er oder sie reifer und weiser geworden ist. Alternativ kann die Geschichte damit enden, dass der/ die Reisende als gebrochener Mann bzw. gebrochene Frau zurückkommt.

Die Filmindustrie bedient sich sehr gerne dieses Modells: ganz klassisch in Filmen wie „Der Herr der Ringe“ und natürlich in „Der Hobbit“, aber auch in anderen Filmen, in denen es nicht auf Anhieb erkennbar ist, da die Helden nicht ausziehen, um finstere Kreaturen zu bekämpfen, sondern beispielsweise das Herz eines oder einer anderen zu erobern oder eine berufliche Idee zu verwirklichen. Meine Aufmerksamkeit gilt in diesem Kapitel der Verfilmung „Der Hobbit“. Der neuseeländische Regisseur Peter Jackson orientierte sich hierbei an der, im englischen Original im Jahre 1937 erschienen Geschichte The Hobbit or There and Back Again - verfasst von dem englischen Oxford-Professor John Ronald Reuel Tolkien.

Die Plotelemente im Überblick

*Normale Umgebung*
Zunächst einmal erleben wir den Helden in seiner Welt. Im Kinofilm „Der Hobbit – Eine unerwartete Reise“ lernen wir Bilbo Beutlin als einen friedliebenden, ruhigen und gemütlichen Zeitgenossen kennen mit einer präsenten Tendenz zum Knausern und einer, mit den verblichenen Kindertagen eingeschlafenen Sehnsucht nach Abenteuern. Seine Heimat ist das schöne Auenland, wo die Felder und Hügel von saftigem, grünem Gras bedeckt sind und wo kauzige, aber im Grunde sehr liebenswerte Geschöpfe in idyllischer Harmonie leben.

*Der Mentor*
Eine starke Persönlichkeit tritt in das Leben des Helden Ihre Aufgabe besteht darin, den Helden zu bestärken, sich auf eine Reise zu begeben und / oder eine schwere Bürde zu tragen. In „Der Hobbit“ fungiert der Zauberer Gandalf der Graue wegen seines hohen Alters und der Lebenserfahrung nicht nur als der Katalysator, sondern auch als Lehrer, dessen Wissen und Können in Gefahrensituationen unverzichtbar sind. Er glaubt an Bilbo – so wie er daran glaubt, dass die kleinsten Geschöpfe zu Welt - verändernden Taten fähig sind.

*Ruf des Abenteuers*
Eine Person oder ein Ereignis verlangt vom Helden, dass er eine Reise antritt, die ihn aus seiner Welt reißt. Der Zauberer Gandalf der Graue bittet den Hobbit um Hilfe. Bilbo soll mit den Zwergen aufbrechen, um den Arkenstein zu finden, der Thorins Herrschaftsanspruch legitimiert, und um Erebor, das Zuhause der Zwerge, zurückzuerobern. Vor einiger Zeit nämlich wurde der Einsame Berg vom riesigen, Feuer-speienden Drachen Smaug besetzt, der fortan unter und auf Unmengen Gold schläft. Begraben unter Münzen, Kelchen und Ketten liegt der Arkenstein verborgen.

*Ablehnung*
Nicht nur muss der Held seine Familie und Freunde und sein Zuhause verlassen – er wird in Gefahrensituationen geraten. Nachdem die Zwerge Bilbo geradezu überfallen und auf die, für Zwerge weniger subtile Weise, auf die Gefahren der Reise hingewiesen haben, kommt es für ihn zunächst nicht infrage, die Reise anzutreten. Er weigert sich, das sichere Auenland zu verlassen. – Verständlich, denn ihm drohen Hunger und Durst, Strapazen und mächtige Gegner. Ob er die Reise heil übersteht, kann niemand garantieren.

*Antreten der Reise*
Der Held ist bereit, sich den Herausforderungen zu stellen. Was ihn letztendlich dazu motiviert hat, hängt von seiner Persönlichkeit ab. Was Bilbo angeht, so ist er zunächst fest entschlossen, sich nicht auf das Abenteuer einzulassen. Doch dann packt ihn die Sehnsucht nach dem Nervenkitzel und dem Unbekannten. Aber in erster Linie haben ihn Gandalfs Worte überzeugt. Nachdem er eingesehen hat, dass seine Teilnahme für das Gelingen der Mission wichtig ist, bricht er mit den Zwergen auf.

*Point of no return*
Jetzt hat sich der Held weit vom Zuhause entfernt. An einem bestimmten Punkt besteht aber noch die Möglichkeit, umzudrehen. In „Der Hobbit“ ist dieser Punkt relativ bald am Anfang, sowie am Ende des ersten Teils der Trilogie erreicht. Bilbo nutzt die Gelegenheit nicht, nach Hause zurückkehren, sondern geht mit. In „Herr der Ringe – Die Gefährten“ sieht man schön, wie schwer es den Helden fällt, die Grenze zu überschreiten; Frodos Begleiter Samweis Gamdschie bleibt mitten im Feld stehen. Auf einmal wird ihm klar, dass Frodo und er kurz davor stehen, ihr Zuhause zu verlassen.

*Freunde und Feinde / Werkzeuge, Waffen, Wissen*
Der Held stürzt sich in ein Abenteuer, bei dem er an die Grenzen seiner Kräfte stößt. - Ein Glück, dass ihm in solchen Zeiten Freunde und Verbündete beistehen. Zu Bilbos Gefährten auf der einjährigen Reise zählen der Anführer der Zwerge Thorin Eichenschild und seine Männer, die ihre Tapferkeit im Kampf gegen Bergtrolle, Riesenspinnen und Orcs beweisen.
Der Held findet oder erwirbt ein Schwert, einen Zaubertrank oder erweitert sein Wissen. In „Der Hobbit“ stößt Bilbo im Berg auf den Ring, den die Kreatur namens Gollum vor sehr langer Zeit gefunden und gehütet hat. Der Ring spielt vor allem in der Trilogie „Der Herr der Ringe“ eine gewichtige Rolle, aber auch in „Der Hobbit“ nutzt er den Gefährten: Bilbo wird mit seiner Hilfe unsichtbar und kann seinem Ruf als Meisterdieb gerecht werden.

*Schlimmstmögliche Wendung*
Der Held tritt seinem größten Gegner gegenüber und versagt. Die Konsequenzen sind nicht nur für ihn und seine Verbündeten, sondern auch für viele andere verheerend. Nach der ersten großen Prüfung stirbt der Held symbolisch: Er ist gebrochen, er zweifelt an sich und sieht keinen Sinn mehr darin, die gesetzten Ziele weiterhin zu verfolgen. Aber nach dem symbolischen Tod folgt die Wiederauferstehung des Helden: Er ist stärker und entschlossener denn je.
In der Fortsetzung, „Der Hobbit – Smaugs Einöde“, darf Bilbo beweisen, dass Gandalf ihn nicht umsonst ausgesucht hat; Im Einsamen Berg gelangt der Hobbit in die Schatzkammer, in der der gefährliche Drache Smaug lebt. Bilbos Geschick ist gefragt. Mithilfe des Ringes, der ihn unsichtbar macht, aber auch dank seiner Eloquenz gelingt es Bilbo zunächst, den Drachen zu täuschen. Obwohl Bilbo sich Mühe gibt, versagt er. Das Schlimmstmögliche tritt ein: Der erzürnte Drache fliegt aus, um die von Menschen besiedelte Stadt Esgaroth zu vernichten. Die Phase des Zweifelns durchläuft Bilbo zwar nicht, aber die katastrophale Wendung der Ereignisse färbt auch auf ihn ab.

*Entscheidende Schlacht*
Jede Handlung steuert unbarmherzig auf das explosive Ende des Konflikts zwischen dem Helden und dem Gegner zu. Der Held – der aus seiner letzten Schlacht gelernt hat – fiebert dem Endkampf geradezu entgegen, weil er weiß, dass seine Mission nur auf diese Weise erfüllt werden kann. Dabei muss der Gegner überhaupt keine Gestalt haben, sondern kann etwas Abstraktes sein. Manchmal ist der größte Feind des Helden der Held selbst.
Genauso sehr wie seine Begleiter blickt Bilbo mit aufkeimender Furcht, aber Entschlossenheit dem Moment entgegen, in dem versucht wird, den Drachen aufzuhalten. Kurz darauf tritt ein anderes gravierendes Problem auf: Die Elben und Menschen wollen Thorin und seine Männer angreifen, rückt Thorin den versprochenen Anteil des Schatzes nicht heraus. [Spoiler]  Zum Verdruss der Fans des Kinderbuchs fällt Bilbo im letzten Teil der Trilogie, „Der Hobbit – Die Schlacht der Fünf Heere“, keine tragende Rolle im Endkampf zu. – Der Unmut ist verständlich, denn der Filmtitel verweist auf Bilbo Beutlin als Hauptdarsteller. Allerdings sind es Andere, die den entscheidenden Schwerthieb oder Pfeilschuss ausführen und somit die am meisten gefürchteten Gegner besiegen, was beweist, dass Peter Jackson vom Pfad der Heldenreise abgewichen ist. Nichtsdestotrotz leistet Bilbo einen großen Beitrag zur Mission. Er setzt alles daran, die Heere in „Der Hobbit – Die Schlacht der Fünf Heere“ zur Kooperation zu bewegen.[Spoiler-Ende]

*Heimreise*
Der Held hat Erfahrungen gesammelt, den Schatz oder seine wahre Liebe gefunden. Er hat eine geistige und emotionale Entwicklung durchgemacht und führt sein gewohntes Leben fort, oder er schlägt einen ganz anderen Weg ein. Egal, wie es für ihn weitergeht – die Reise hat ihn geprägt und verändert. In „Der Hobbit – Die Schlacht der Fünf Heere“ kehrt Bilbo zurück ins Auenland. Äußerlich mag er vielleicht nur einige Wunden davongetragen haben. Was jedoch sein Seelenleben angeht, so ist er natürlich von den Ereignissen der Reise gezeichnet. Denn in den vergangenen Monaten hat Bilbo eine riesige Strecke zurückgelegt; er überquerte das Nebelgebirge und hielt sich im Düsterwald auf, er war in der Seestadt Esgaroth und sah die Reichtümer des Einsamen Bergs. Auf seiner Reise begegnete er Elben, einem Fellwechsler und sogar einem gigantischen Drachen. Mit seinen Gefährten geriet er in die Fänge von Riesenspinnen, gegen die er sich mit seiner Waffe zu wehren wusste, und überlebte mehrere Angriffe der gefährlichen Orks.

*Die Rolle des Helden im Gesamtkonzept*
Bei der Realisierung seiner Filmvision nahm Regisseur Peter Jackson J. R. R. Tolkiens Buch über die Abenteuer des kleinen Hobbits so viele Veränderungen vor, dass eingefleischte Tolkien-Fans zurecht erzürnt waren. Zum einen steht der König der Zwerge, Thorin Eichenschild, und nicht etwa Bilbo im Mittelpunkt. Zum anderen entspricht Thorins Persönlichkeit weniger der Vorlage. Die Zwerge zeigen sich im Film entgegen Tolkiens Vorstellungen von Zwergen in seinem Kinderbuch als kampferprobte Krieger, die gegen Orks und andere Kreaturen antreten. Damit die Buchvorlage, die ca. 400 Seiten umfasste, auf drei Filme gestreckt werden und auch erwachsene Zuschauer ins Kino locken konnte, wurde der Film mit Kampfszenen gefüllt. (Nebenbei bemerkt: Das Werk „Der Herr der Ringe“ umfasste mehr als eintausend Seiten.) Der Ork Azog aus „Der Herr der Ringe“, der im Buch einen kurzen Auftritt hat, avancierte in „Der Hobbit“-Trilogie zu einem der meistgefürchteten Gegner. Einige der bereits bekannten Lieblinge aus der Fantasysaga wurden übernommen wie z.B. Frodo am Anfang der neuen Filmreihe oder Legolas in der 2. und 3. Fortsetzung und neue erfunden wie z.B. Tauriel. Diese rückt ins Interesse von zwei Männern, die um sie buhlen.

Bilbo ist eine interessante literarische Figur. Für mich ist er interessanter als Frodo. Nicht nur erscheint er auf den ersten Blick sympathisch und naiv, er bleibt auch im Verlauf der Geschichte so. Er zeigt Mut und hat ein gutes Herz, allerdings schreckt er nicht vor List und Täuschung zurück. Der Hobbit verbirgt vor Gandalf, dass er einen magischen Ring gefunden hat, und enthält dem, von der Goldgier beherrschten Zwerg Thorin Eichenschild das vor, was dieser am meisten begehrt.

Wer sich „Der Hobbit 3“ anschauen möchte, sollte an dieser Stelle nicht weiterlesen. Ab jetzt wird es etwas detaillierter.

[Spoiler] Wie bereits erwähnt, wird in vielen Kritiken bemängelt, dass Bilbo keinen allzu großen Part im Film spielt. Er durchläuft zwar die Stationen einer Heldenreise im Hinblick auf nahezu alle Punkte, doch weder führt er den letzten Hieb noch den letzten Stich aus, um einen der zentralen Antagonisten zu besiegen. Das Finale entscheiden Andere zugunsten der friedliebenden Völker von Mittelerde.

Wir sind es von Märchen aus den Kindertagen, aber auch von Filmen nun mal gewöhnt, dass der Protagonist der Geschichte zum finalen Schlag ausholt und seinen Erzfeind ins Jenseits befördert. Daher verstehe ich Zuschauer, die mit dem Ausgang von „Die Schlacht der Fünf Heere“ weniger zufrieden sind. Allerdings sind andere Figuren mit Bilbos Antagonisten stärker durch negative Gefühle verbunden; Thorin Eichenschild mit dem Ork Azog, der Thorins Sippe getötet hatte, oder der Seestadtbewohner Bard mit dem Drachen Smaug, der durch den Fehlschuss von Bards Vorfahren entkommen konnte. Daher hat sich der Regisseur entschlossen, ihnen den letzten, tödlichen Schlag zu überlassen.[Spoiler-Ende]

Ich bin der Meinung, dass der Protagonist nicht immer den schlimmsten aller Antagonisten selbst besiegen muss. Entscheidend ist, dass er für die Handlung wichtige Taten vollbringt und diverse Entwicklungsstufen durchläuft. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Bilbo tötet zwar kaum einen Gegner und schon gar keinen der wichtigsten, doch ohne seine Bemühungen wären einige der Zwerge im ersten Film längst von den Bergtrollen verspeist worden. Außerdem gelingt ihnen nur dank Bilbo die Flucht aus dem Verlies des Elbenfürsten Thranduil. Als die Zwerge einer gewaltigen Armee gegenüberstehen, greift er zu einer List, um den Krieg abzuwenden. Alles in allem wird klar, dass Bilbo sich entwickelt und mehr als nur ein Mal über seinen Schatten springt.

Ich will die altbewährte Heldenreise nicht radikal umwälzen. Allerdings wäre im 21. Jahrhundert zu erwarten, dass ein neues Verständnis dieses Modells in Kraft tritt. Eines, das dem Helden die Möglichkeit einräumt, nicht ausschließlich durch gewaltige, sondern auch durch kleine, aber für die Handlung notwendige Taten zu glänzen.

Die Heldenreise erweist sich als ein erprobtes Grundmuster, nach dem sich vor allem Filmproduzenten richten. Aber auch zahlreiche nationale und internationale Autoren bestätigen den Erfolg dieses Dramenmodells. Die Heldenreise bietet etwas Spielraum; So können einige Bausteine wegfallen. Andere wiederum können integriert werden wie bspw. weitere Herausforderungen zwischen dem symbolischen Tod des Helden und dem alles entscheidenden Kampf. Ob ihr eure Geschichte mithilfe des Modells gestaltet oder nicht, bleibt euch überlassen. Es lohnt sich jedoch allemal, sich damit beschäftigt zu haben.

Autorin / Autor: Carolina Hein - Stand: Juni 2016