Fünf Welten
Beitrag zum Kreativ- und Schreibwettbewerb "Das ist mir was wert" von Raven E. Dietzel, 24 Jahre
Früh am Morgen, bevor die Sonne scheint
steht eine Frau vorm Spiegel und schaut sich nicht an.
Sie heißt Mary Lou, sie zittert, sie weint –
und weil sie Tränen nicht leiden kann
meidet sie den Blick in ihr müdes Gesicht.
Er gleitet über Keramik und Chromamatur,
über weiße Fliesen, die Schränke sind schlicht.
Sie denkt an Liebe, titelt sich selbst mit "nur"
und schaut schließlich an sich hinab.
Erblickt blaue Flecken und rote Striche
und ihr Bauch tut weh. Sie wäscht knapp
das Blut aus den Kratzern und betupft die Stiche.
Sie wird keinem erzählen, was ihr nachts geschieht.
Man sagt: Jedem das seine; So auch diese Sitte.
Sehr still jedoch hofft sie, dass jemand sie sieht:
Es sind hässliche, böse Schnitte.
Durch die großen Fenster scheint Vormittagssonne
in die Lounge des Hotels wo man Frühstück hält.
Mary Lou trinkt Kaffee. Eine kurze Kolonne
alter Leute hält Einzug. Da explodiert die Welt.
Sie bricht in Toast und Eier und Camembert
und Millionen von Scherben und fliegt durch den Raum.
Die Menschen wirbeln wie Puppen umher.
Mary Lou begreift all das kaum.
Sie weiß nichts von dem Attentäter
als sie unter einem Tisch und einem toten Mann
hervorkriecht. Man erklärt es ihr später,
dann nimmt ein Sanitäter sich ihrer an.
Bis dahin liegt sie für viele Stunden
neben einem Glas Konfitüre. Die Sorte ist Quitte.
Sie blendet Leichen aus und die eigenen Wunden.
Es sind schmerzhafte, böse Schnitte.
Die Sonne brennt mittags erbarmungslos.
Mary Lou stolpert über zerbrochenen Stein.
Das Trümmerfeld ist endlos groß
und sie fühlt sich selber winzig klein.
Sie findet nicht ihren Mann und das Kind,
keine Freunde, Verwandten, nicht mal ihren Hut.
Aber sie trifft Menschen, die auch auf der Suche sind.
Machen mutlos einander Mut,
dann verlaufen sie sich zwischen den Wänden.
Mary Lou hat nichts, außer Durst und Zeit.
Verzweifelt gräbt sie mit bloßen Händen
in Haustrümmern, bis sie vor Schmerzen schreit.
Fern hört sie Flieger und läuft panisch weg.
Ihr schmerzt jeder der stolpernden Schritte.
Sie knickt und fällt, rutscht durch Steine und Dreck.
Es sind schmutzige, böse Schnitte.
Es ist Nachmittag und die Sonne steht tief.
Im Spital schlurft mit mutlosem Blick
Mary Lou, die bis eben noch narkotisiert schlief
zur Toilette und danach zurück.
Sie ist auf dem Zimmer seit gestern allein.
Das ist gut, denn sie will keinen sehen.
Sie fragt sich, wie viel Sinn es macht hier zu sein
und wie viel Ärger, einfach zu gehen.
Statt es zu tun, setzt sie sich stumpf
auf eines der Krankenhausbetten
und befühlt die Naht an ihrem Rumpf.
Die Operation kann sie nicht retten.
Der Arzt gab Mary Lou noch ein halbes Jahr,
sie ist bereits bei der Mitte.
Das Medikament macht sie dumpf und starr.
Es sind sinnlose, böse Schnitte.
Die Sonne sinkt hinter den Bäumen nieder.
Mary Lou stopft ihre Pfeife mit Kraut.
Junge Leute singen am Feuer Lieder,
sie singen fröhlich und laut.
Sie tanzen auch und Mary Lou
staunt nach dem Tag über so viel Energie.
Sie selbst lehnt am Brunnen und schaut ihnen zu.
Sie bereut ihre Arbeit nie.
Gedankenverloren gibt sie sich Glut,
und bläst einen Ring in den Wind.
Sie wird langsam älter, doch noch packt sie gut
und kräftig mit an, wenn die Heuernten sind.
Zurzeit sind arbeitssame Wochen,
von zwölf Tagen Ernte war dies erst der dritte.
Das Stroh hat Mary Lous Arme zerstochen,
doch sie weiß, es sind gute Schnitte.