Ausländer
Autor: Paul Dowswell
Jugendbücher über die Zeit des Zweiten Weltkriegs gibt es mittlerweile wie Sand am Meer. Paul Dowswells Roman hebt sich dennoch aus der Masse ab – die Geschichte um den polnischen Waisenjungen Piotr besticht und überzeugt durch die ungewöhnliche Perspektive und sorgfältige Recherche, die der Autor seinem Werk zugrunde gelegt hat.
Der 13-jährige Piotr Bruck hat großes Glück: Als die Nationalsozialisten im Sommer 1941 in sein polnisches Heimatdorf einfallen, wird er aufgrund seiner deutschen Vorfahren und seines arischen Aussehens als Volksdeutscher eingestuft. Während viele der anderen Jungen seines Waisenheims auf Transporte in den Osten geschickt werden, fährt Piotr nach Berlin, um dort von einer deutschen Familie aufgenommen zu werden.
Die Kaltenbachs, bei denen der Junge unterkommt, sind Parteianhänger mit Leib und Seele, der Vater der Familie betreibt gar für die nationalsozialistische Führung Rassestudien mit Menschenmaterial. Piotr muss sich nun Peter nennen und der Hitlerjugend beitreten, doch er findet schnell Anschluss und fühlt sich zunächst durchaus wohl in seiner neuen Umgebung. Doch auch wenn er selbst nun als Deutscher gilt, fällt ihm auf, wie mit fortschreitendem Kriegsverlauf die Anfeindungen und Gewalttätigkeiten gegen Ausländer und Juden immer stärker zunehmen, und er beginnt, insgeheim die Ansichten seiner Pflegeeltern zu hinterfragen.
Peters Einstellung zur nationalsozialistischen Doktrin ändert sich endgültig, als er die gleichaltrige Anna kennenlernt. Obwohl Scharführerin beim Bund Deutscher Mädel, gibt sie sich ihm gegenüber bald als entschiedene Gegnerin des Regimes zu erkennen, und Peter erfährt, dass ihre Familie bereits seit längerem untergetauchte Juden und Flüchtlinge unterstützt. Auch Peter möchte etwas tun, und es wird für ihn immer schwieriger, vor der Familie Kaltenbach den Schein zu wahren. In welcher Gefahr er tatsächlich schwebt, wird ihm erst vollends bewusst, als es scheinbar schon zu spät ist – Peter und Annas Familie werden verraten und müssen fliehen, doch dass alle überleben werden, ist mehr als unwahrscheinlich ...
Paul Dowswell ist Engländer, doch er wählt für seinen Roman die Innenperspektive aus dem Deutschen Reich: Protagonist Piotr lebt nicht nur unter dem Naziregime, er steht noch dazu zumindest zu Beginn des Romans auf der Täterseite. Dies erlaubt dem Autor eine wesentlich unmittelbarere Darstellungsweise der Naziverbrechen, deren grausame Realität zudem auch in Piotrs Wahrnehmung anfangs noch von verklärender Propaganda überlagert werden. Piotrs allmähliche Erkenntnis der wahren Natur des Rassenkults – nicht zuletzt durch das Radioprogramm der BBC, das er gemeinsam mit Anna hört – und sein Sinneswandel vom Mitläufer zum aktiven Regimegegner gewinnen dadurch umso mehr an Tiefe und Authentizität.
Obwohl es sich um eine fiktive Geschichte handelt, legt der Autor ein bemerkenswert großes Augenmerk auf historische Details und Korrektheit. In einem Nachwort erläutert er ausführlich und mit Angabe seiner Quellen, wie die im Buch verarbeiteten geschichtlichen Daten im Bezug zur Realität stehen. Nicht nur durch die Übernahme originaler Formulierungen aus Reden von Naziführern und Liedtexten oder Aufgaben aus nationalsozialistischen Schulbüchern wirkt der Text oft schonungslos, direkt und unverblümt. Dowswell beschönigt nichts, und im gleichen Maß, in dem die Handlung und Piotrs Situation sich zuspitzen, brutaler und gefährlicher werden, wird auch die Sprache immer unumwundener und kompromissloser. Der Autor will nicht verschleiern oder abmildern, sondern stellt die schonungslose Brutalität seines Themas mit gleichermaßen ungeschliffener Sprache dar. Somit taugt "Ausländer" zwar sicher nicht zur gemütlichen Bettlektüre, ist jedoch in jedem Fall ein beeindruckender, mitunter bedrückend realistischer Roman, der eindrucksvolles Porträt des Grauens und gleichzeitig Plädoyer für die Menschlichkeit ist.
*Erschienen bei: Baumhaus Verlag*
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Autorin / Autor: fabienne - Stand: 04. Juni 2012