Die Vertraute
Autorin: Gilly Macmillan
Aus dem Amerikanischen von Sabine Schilasky
Lucy, eine gefeierte Bestsellerautorin, hat einen Meilenstein erreicht: Sie hat ein weiteres Buch über die charmante Ermittlerin Eliza fertig gestellt, die sowohl ihre Leser als auch ihren Agenten begeistert. Nur Lucy selbst ist Eliza und auch der große Raum, den Eliza inzwischen in Lucys Leben einnimmt, nicht mehr ganz geheuer. Doch mit dieser Fortsetzung der gefeierten Reihe will Lucy Eliza endlich die Macht entreißen, die diese inzwischen erlangt hat. Doch kaum versiegt das Gefühl des Triumphs über ihr abgeschlossenes Manuskript, da holt sie die Realität ein: Der Verlag ist nicht zufrieden mit dem Verlauf des Buches – und ihr Mann Dan hat heimlich ein renovierungsbedürftiges Haus erworben, und sich dabei auf die Finanzspritze verlassen, die Elizas nächster Fall eigentlich einbringen sollte. Lucy fühlt sich verraten: Dan hat nicht nur den Kauf des Hauses vor ihr geheim gehalten, sondern hat sich ausgerechnet ein Haus in der Gegend ausgesucht, in der Lucys kleiner Bruder vor so vielen Jahren verschwunden ist. Den Verlust ihres Bruders, den ihre Kindheit geprägt hat, hat Lucy bis heute nicht ganz verkraftet. Damals stand auch der ungeheure Verdacht im Raum, Lucy selbst könnte etwas mit dem Verschwinden ihres Bruders zu tun haben – oder der Polizei zumindest wichtige Informationen darüber verschweigen. Der neue Wohnort und die alten Erinnerungen führen zu Spannungen zwischen Lucy und Dan – bis dieser plötzlich verschwindet. Lucy wird davon völlig aus der Bahn geworfen und findet sich plötzlich wieder inmitten einer polizeilichen Ermittlung wieder, bei der immer mehr Hinweise in ihre Richtung zeigen.
Gilly Macmillan ist es gelungen, ein unglaublich spannendes und atmosphärisches Buch zu schreiben. Ihr Stil erinnert mich an die Romane von Paula Hawkins, oder auch an „Sieben Lügen“ von Elizabeth Kay. Über allem liegt eine gewisse Schwere, eine Art Dunkelheit, die nur stellenweise durchbrochen wird, wenn sich wieder ein Geheimnis lüftet. Seite um Seite baut Macmillan eine diffuse Drohkulisse auf, indem sie gleichzeitig von Lucys heutigem Leben, aber auch von ihren damaligen Erlebnissen erzählt. Dadurch entwickelt man als Leser das täuschende Gefühl, mehr zu wissen als die meisten Protagonisten. Besonders in den ersten zwei Dritteln möchte man nur so durch die Kapitel fliegen, weil man sich so sicher ist kurz vor der großen Enthüllung zu stehen, die alles in einem neuen Licht erscheinen lassen wird. Doch ein ums andere Mal wird man enttäuscht und kann, genau wie Lucy, nur weiter im Dunkeln tappen. Dieser Aspekt des Geschichte hat mir wirklich gut gefallen: Der Fokus auf die wichtigste Protagonistin Lucy, ihre Gefühle und Hoffnungen, aber auch ihre Verzweiflung und ihre Ängste. Keine zweite Perspektive, keine Ablenkung von dem, was Lucy erlebt.
Im letzten Drittel dann überschlagen sich die Ereignisse, und wichtige Elemente werden aufgeklärt. Doch das größte Mysterium, das Fundament der gesamten Geschichte, der rote Faden der Erzählung, bleibt ungeklärt und führt ins Nichts. Als Leser erreichen wir, gemeinsam mit Lucy, den Abgrund, nehmen auf dem Weg dorthin viele Hürden, doch beim Blick über die Kante sehen wir dort nichts als Dunkelheit, die alles verschluckt. Wer also darauf hofft, dass am Ende der Vorhang fällt und das Licht angeht, der wird enttäuscht werden, und sich womöglich auch ein wenig vorkommen, als wäre er in die Irre geführt worden. Doch für mich ist dies nur ein kleiner Wermutstropfen, über den ich hinwegsehen kann. Für mich bleibt „Die Vertraute“ ein unglaublich fesselndes Buch, das ich sehr gerne gelesen habe, und auch auf jeden Fall weiterempfehlen würde.
*Erschienen bei blanvelet*
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Autorin / Autor: lacrima - Stand: 31. Januar 2022