Und zwischen uns ein Ozean aus Schweigen

Autorin: Joanna Ho
ins Deutsche übersetzt von Claudia Max

May führt das typische Leben eines amerikanischen Teenagers mit chinesisch-taiwanesischen Wurzeln: Ihre Eltern haben hohe Erwartungen an sie, wollen nur das Beste für sie, und wissen auch, wie May das bekommen wird. Über akademischen Erfolg, gute Noten, Anpassung. Während Mays Leistungen bei ihre Eltern oft Enttäuschung auslösen, ist ihr großer Bruder Danny das Vorzeigekind: Er spielt in der Basketballmannschaft seiner High School, ist unter den Mitschülern beliebt und wurde an einer renommierten Uni angenommen. Seine Zukunft ist rosig und voller Erwartungen. Doch diese Differenzen treiben keinen Keil zwischen die Geschwister, sondern schweißen sie eher noch enger zusammen. Umso härter trifft es May, als sich Danny völlig unerwartet das Leben nimmt und die Familie zerbrochen und voller Fragen zurücklässt. May wird völlig aus der Bahn geworfen, verliert ihre Freunde aus den Augen und funktioniert im Alltag nur noch. Erst nach und nach lernt sie, ohne ihren Bruder zu leben. Gerade als sie sich einigermaßen an die neue Situation gewöhnt hat, kommt es bei einer Infoveranstaltung an ihrer Schule zu rassistischen Äußerungen, die sich gegen ihre Familie richten: Dass ihr Bruder sich das Leben genommen hat, daran seien ihre Eltern Schuld, die von ihrem Sohn, wie alle asiatischen Eltern, zu viel erwartet hätten. Guten Leistungen von asiatisch-stämmigen Jugendlichen wie ihm würden die Mitschülerinnen und Mitschüler unter Druck setzen. May ist schockiert, außer sich und tief verletzt. Doch der Vorfall öffnet ihr auch die Augen und lässt sie erkennen, welche Missstände an ihrer eigenen Schule und in der Gesellschaft insgesamt herrschen. Wird sie daran zerbrechen oder wird sie einen Weg finden, damit umzu- oder sogar dagegen vorzugehen?

„Und zwischen uns ein Ozean aus Schweigen“ ist ein Buch, das ganz viele Geschichten erzählt. Es erzählt die Geschichte einer Familie, einer kleinen Schwester, einer Freundin, einer Schulgemeinschaft, und einige weitere. Manche stehen dabei im Vordergrund, andere werden nur angedeutet. Das macht die Erzählung reich an Facetten und Perspektiven, sorgt allerdings auch dafür, dass sie an einigen Stellen recht flach bleibt.

Was mir sehr gut gefallen hat, war das Setting der High School als ganz eigener Mikrokosmos, der tausendfach existiert, jeder auf seine eigene Art und Weise, wobei doch alle Parallelen aufweisen, und so eine universelle Erfahrung für die Schülerinnen und Schüler schaffen. May balanciert die Erfahrungen in der Schule mit dem, was sie zuhause erlebt. Dort herrschen andere kulturelle Gesetze, und auch Gewohnheiten und Eigenheiten ihrer Eltern prägen das Zusammenleben. Diese beiden Welten hat die Autorin sehr liebevoll und detailreich zum Leben erweckt, sodass ich als Leserin nachvollziehen konnte, wie der Wechsel zwischen beiden Welten May manchmal zum Taumeln bringt.

Der Rassismus gegen Menschen mit asiatischen Wurzeln ist ein zentrales Thema und führt May dazu, sich auch mit den rassistischen Erfahrungen zu beschäftigen, die ihre Mitmenschen machen. Das fand ich sehr berührend und ich kann mir vorstellen, dass dieser Weg, Leserinnen und Leser an dieses Thema heranzuführen, sehr erfolgreich ist. Was darüber hinaus etwas zu kurz kam, war für mich das Thema mentale Gesundheit. Basierend auf dem Verlauf der Geschichte sollt es ähnlich viel Raum einnehmen, doch es wird kaum angeschnitten geschweige denn weiter ausgeführt. Das fand ich sehr schade, kann es im Kontext des Buches jedoch auch nachvollziehen – die Anzahl der Seiten ist nun mal begrenzt. Insgesamt hat mir „Und zwischen uns ein Ozean aus Schweigen“ gut gefallen, und ich kann es als berührende Lektüre auf jeden Fall weiterempfehlen.


Erschienen bei cbj

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Autorin / Autor: lacrima - Stand: 13. Juni 2024