Chloé

Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet

Zitternd ging ich aus dem Schlafzimmer. Ganz automatisch brachten meine Füße mich zu meinem Beruhigungsort: In die Küche. Mich noch immer fest umschlungen schaute ich mich in der hellgelben, vertrauten Küche um. Wie oft bin ich hier schon gelandet? Wie oft war ich hier und habe mich danach vollgestopft? Nachdem mein Vater mit mir fertig war?

Mein Blick huschte zu dem eingerahmten Familienportrait und sofort sprang mir das widerliche Grinsen meines Papas ins Gesicht. Ich würgte. Wie oft hatte er mich schon so angeschaut? So hungrig?

Und auf einmal konnte ich nicht mehr. Ich zerbrach. Willenlos ließ ich mich auf den Küchenboden fallen und wippte vor und zurück. Vor und zurück. Versuchte mich wie immer einfach forttreiben zu lassen in meine kleine Traumwelt, in mein kleines Himmelsstück, wo ich aufgehoben war. In meine unschuldigen Kindheitserinnerungen.

Ich sah den Tulpen beim Wachsen zu. Beruhigt legte ich mich auf die wohlschmeckende Erde, um den vertrauten Duft von Leid und Glück, Hoffnung und Verzweiflung unserer gemeinsamen Welt einzuatmen. Meine 7 Jahre alten Ellbogen ruhten auf dem weichen Gras und ich dachte nur an die kleine Blumenzwiebel, die jetzt einsam im Dunkeln lag und noch schlief.

Meine große Schwester hatte mir immer wieder erzählt, dass aus diesem unscheinbaren Gewächs eine einzigartige Tulpe heranwächst und ich sie auch ja beobachten müsste, wie sie langsam groß und schön wird. „Genauso schön wirst du auch mal sein, meine kleine Knospe“, flüsterte sie mir dann ins Ohr und legte sich zu mir. Wir lagen einfach nur. Nebeneinander. Schauten. Manchmal hörte ich sie kaum hörbar weinen, doch es war so leise, dass ich mir einbildete es wäre nichts. Ich rührte mich nicht. Vielleicht war dies ein Fehler von mir, aber sie war so viel grausamer zu mir, als ich es je zu ihr sein könnte.

Sie haute ab. Eines Morgens lag nur noch ein kleiner Zettel mit einer Telefonnummer auf meinem Nachttisch. Ich habe sie nie angerufen. Dies hatte ich meiner Sturheit und meinem Stolz zu verdanken, denn ich wollte ihr beweisen, dass ich es auch ohne sie aushalten konnte. Sie hatte mich nämlich dieser Qual ausgesetzt, mich alleine gelassen... Und trotzdem vermisste ich sie. "Chloé, ich muss los, Mama abholen. Sie hat mal wieder Überstunden. Sei immer schön brav, meine kleine Knospe!" Mein Papa hetzte aus dem Haus. Plötzlich war es still in dem traurigen Haus. Kein Uhrticken. Keine Kaffeemaschine, die leise zurrte. Nichts. Ich brauchte ein paar Augenblicke, um zu begreifen, was sich verändert hatte. ICH war still, geschockt von den schlichten Worten meines Vaters. "Chloè, meine kleine Knospe!" Genau wie meine Schwester. Etwas zersprang in mir und ich konnte ihr verzeihen. Es war kein Hass mehr in mir. Ich wollte einfach nur weg, weg, weg. Hektisch sprang ich auf, den Zettel schon spürbar in der Hosentasche. Ich trug ihn immer bei mir. Ich schaute wieder auf das Familienportrait und blickte noch mal in jedes Gesicht. Meine Schwester, mit einem Lächeln voller Tränen, meine Mutter, ahnungslos und etwas dümmlich grinsend und mein Vater, ja mein Vater, der die Vorfreude kaum verbergen konnte. Und ich sah mich. Klein, ängstlich und naiv. Mit einem allerletzten Blick nahm ich das Foto und zerschmetterte es auf den Boden. Schnell kehrte ich meinem Zufluchts- und Verzweiflungsort den Rücken zu und marschierte zur Tür.

Fast als könnte ich fliegen, kam ich schon der Haustür entgegen. Es schien so, als wäre ein helles, unheimliches Leuchten von der Tür ausgegangen, die mich unaufhaltsam zu ihr zog. Ich beschleunigte meine Schritte. Früher hatte ich immer das Gefühl, als wäre die Tür immer fest verschlossen gewesen, doch diesmal war ein Spalt offen. Sie war all die Jahre nur angelehnt gewesen. Doch diesmal hatte mein Vater vergessen abzuschließen.

Nun streckte ich meine Hand aus und meine Finger umschlossen den warmen Holzgriff. Plötzlich wusste ich, dass die Tür all die Jahre nur darauf gewartet hatte, mich hinauszulassen. In das verheißungsvoll betörende Leben. Ich machte einen Schritt und plötzlich stockte ich.

Ein leichter Frühlingswind umfing mein Gesicht. Meine blonden Haare wehten und ich fühlte die Straßenmusik in meinen Adern pulsieren. Genießerisch schloss ich die Augen. Ich lächelte. Jetzt wusste ich genau, warum meine Schwester weggegangen ist. Ich fühlte es: Ich war frei!

Zur nächsten Einsendung

Autorin / Autor: Nicole, 14 Jahre - Stand: 25. Mai 2010