Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
In der Schule behandeln wir im Fach "Werte und Normen" zur Zeit das Thema Ethik, die Lehre vom rechten Handeln. Hauptaspekt: Immanuel Kant und seine Frage „Was soll ich tun?“.
Absurderweise musste ich gestern Abend daran denken. Als ohnehin schon alles aus dem Ruder gelaufen war und nichts mehr der Normalität entsprach. Schon komisch, was? Dass das Gehirn in den unbegreiflichsten Momenten einen Bezug zu völlig nebensächlich erscheinenden Erinnerungen aufbaute.
Vielleicht sollte ich einmal erklären, was gestern überhaupt passiert war. Okay. Es gab eine Party. Und eine mittlere Katastrophe. Aber zuerst das Wesentliche.
Dass wir beide abends weggingen, war nichts Ungewöhnliches. Wir hatten unsere festen Prinzipien, als da lauteten: Keine Blackouts, keine Exzesse, keinen ungeschützten Verkehr. Dass meine Grenzen offensichtlich weitaus enger verliefen als ihre, damit hatte ich nicht rechnen wollen.
Entsprechend groß fiel der Schock aus, als sie ein Glas nach dem anderen kippte. Als sie sich einem Typen nach dem anderen an den Hals schmiss, obwohl sie doch angeblich glücklich vergeben war. Als sie scheinbar grundlos anfing zu weinen und ich nur imstande war, stumm wie ein Fisch daneben zu stehen.
Und nachdem reichlich Alkohol geflossen war und ich in ihr immer weniger den Menschen erkannte, mit dem ich sechs Jahre lang alles hatte teilen können, verlor ich sie irgendwann aus den Augen. Kein bisschen amüsiert, kein winziges bisschen auf den Abend konzentriert, weil in meinem Kopf die Gefühle durcheinander wirbelten wie in einem Hurrikan.
Und am nächsten Morgen dann der Anruf. „Komm doch bitte her!“
Mehr nicht. Keine Erklärungen, nur diese Bitte. Natürlich fuhr ich sofort zu ihr nach Hause, obwohl in mir drin seit gestern alles andere als Ruhe eingekehrt war. Denn wie aus einer ekligen Ecke meines Herzens gekrochen, trat plötzlich diese Frage ans Tageslicht: Wie weit war die Tür zu ihrem Zimmer für mich geöffnet?
Ihre Mutter empfing mich mit einem ganz grauen Gesicht. Die Sorge in mir verstärkte sich, während zeitgleich die Furcht vor dem Unbekannten wuchs.
Die Tür zu ihrem Zimmer, in welches ich Millionen Male ein- und ausgegangen war, war angelehnt. Von hinten kam ein Luftzug, sodass sie zufallen konnte, sofern ich sie nicht festhielt. Aus dem Raum hinter dem dunklen Holz ertönte kein Geräusch. Weder Schluchzen noch Schniefen. Ich stand wie angewurzelt vor dieser Tür, durch die ich so oft gegangen war und die mir jetzt wie ein unüberbrückbares Hindernis erschien. Dahinter tausend Möglichkeiten: Was war passiert? Hatte sie sich von ihrem Freund getrennt? War sie misshandelt worden? Konnte sie sich an nichts mehr erinnern?
Machte sie mir Vorwürfe, weil ich nichts getan hatte?
Aber wie weit durfte man in das Zimmer eines anderen Menschen eintreten? In welchen Situationen war es besser, in seinem eigenen, kleinen Reich zu bleiben? Ab wann überschritt man die Grenze, inwieweit man sich in das Leben eines Freundes einmischen konnte und sollte?
In der Schule befassten wir uns im Werte-und-Normen-Unterricht mit dem Thema Ethik. Der Lehre vom rechten Handeln. Doch auf diese einzige, diese blöde beschissene Frage in meinem Universum aus Fragen, konnte mir die Ethik keine Antwort geben. Ich stellte sie mir seit gestern Abend ununterbrochen und nun stellte ich sie dieser angelehnten Tür.
Wie weit war zu weit?
Sie war meine Freundin. Aber gleichzeitig ein Mensch, von dem ich erbärmlich wenig wusste, wie ich auf schmerzhafte Art und Weise hatte erfahren müssen. Egal wie viel man glaubte, über jemanden zu wissen, egal wie nah man sich stand, wie sehr man sich liebte – irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem es dem anderen zu viel wurde und klack! war die Tür verschlossen. Und zurück bliebst du in deinem Zimmer voller Fragen, die dich einzwängten und nicht länger frei atmen ließen, weil du nicht verstehen wolltest, dass du zu dieser privaten Welt nur eingeschränkten Zutritt hattest.
Und vor dir diese Tür und dahinter der Raum der Antworten. In meinem Fall war sie angelehnt, also bestand vielleicht noch Hoffnung. Nach endlosen schleichenden Minuten fasste ich mir ein Herz und klopfte sachte an. Prompt vernahm ich das Geräusch von sich nähernden Schritten.
Und als ob nichts gewesen wäre, als hätte der gestrige Abend niemals stattgefunden, als lösten sich alle Zweifel und zermürbenden Gedanken mit einem Mal in Luft auf – flog die Tür auf und sie stand vor mir und strahlte mich an.
„Da bist du ja! Oh – ich liebe dich!“
Und als sie mein Gesicht sah, mein furchtbares, besorgtes Gesicht, machte sie die Miene eines Kindes, das einen Lolli geklaut oder etwas ähnlich Verbotenes getan hatte. Sie presste zwei Finger auf ihren Mund und nuschelte nahezu unverständliches Zeug von wegen: „...ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist. Es tut mir so unendlich leid. Ich glaub’, ich habe Scheiße gebaut. Kommst du mit rein?“.
Konfrontiert mit dieser entwaffnenden Wahrheit – was blieb mir anderes übrig? Doch in jenem Augenblick glaubte ich, ich wäre ihr auch gefolgt, hätte sie mich aufgefordert, von der Spitze des Mount Everests zu springen. Vorerst hatte ich den Schlüssel zu ihrem Zimmer gefunden – er nannte sich gegenseitiges Vertrauen.
In Werte und Normen hatten wir einmal das Thema Freundschaft behandelt. Und obgleich mir beim besten Willen keine allgemeine Erklärung für dieses Phänomen einfiel, kam ich zu dem Schluss, dass diese Erkenntnis zumindest einen Teil meines Fragen-Universums erhellen konnte:
Man kam in der Freundschaft nicht weit, wenn man nicht bereit war, Dinge zu verzeihen. Zumindest zuzuhören. Geduld zu zeigen. Nur ein kleines Stück.
An diesem Tag war ich dazu bereit. So folgte ich ihr in ihr Zimmer und hörte mir ihre Geschichte an. Zurück blieben fürs Erste die Zweifel und eine geschlossene Tür.
Autorin / Autor: Christina, 17 Jahre - Stand: 25. Mai 2010