Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Wenn die Tür geschlossen gewesen wäre, wäre alles nichts passiert. Wäre nichts passiert. Gar nichts. Niemals. Und alles wäre geblieben, wie es war.
Mom und Dad durften nichts wissen, sonst hätten sie es verboten. Sie sagten immer: „Musik macht unglücklich. Gib dich ihr nicht hin, Mädchen, sie wird dich unglücklich machen.“ Natürlich, wir wussten es, niemand wusste besser als wir, wie unglücklich Musik macht. Und ich war auf dem besten Weg, mich in der Musik zu verlieren, alles zu verlieren, mich, Mom und Dad, alles, alles. Musik hatte SIE fortgenommen, und ich wusste, ich konnte genauso von der Musik fortgetragen werden. Nein, niemand durfte wissen, wie sehr ich die verbotene Musik liebte, und darum musste die Tür immer geschlossen sein, sonst würden sie mir die Musik nehmen. Singen ließ mich vergessen, dass SIE fort war, und deswegen konnte ich nicht damit aufhören, weil ich vergessen wollte. Der Raum hinter der geschlossen Tür war mein Reich, dort konnte mich niemand erreichen, dort war mein Reich. Es war Musik, war Traum, war Vergessen, war eine zeitlose Zone, dort war nichts geschehen, würde nichts geschehen, dort war Musik. Und deswegen musste die Tür geschlossen sein, weil ein kleiner Windhauch alles wegwischen konnte, die Musik, SIE, alles. Das Vergessen durfte nicht verschwinden, sonst würde ich zerbrechen, so wie meine Eltern zerbrochen waren. Ja, die waren daran zerbrochen, als SIE fortgegangen war um Musik zu machen. Mama hatte geweint und gesagt: „Warum willst du gehen? Musik wird dich zerstören; geh nicht fort!“ Und doch war SIE gegangen, und daran waren meine Eltern zerbrochen, und deswegen musste die Tür geschlossen bleiben, weil sie sonst endgültig zersplittert wären. Meine große Schwester, SIE, hatte die Musik so geliebt, und meine Eltern haben es nur für eine Phase gehalten. Ich wusste es besser. SIE hatte nicht die Tür geschlossen, bei IHR stand sie immer einen Spalt breit offen. SIE war mutiger gewesen, und darum war SIE fortgegangen als ein Produzent sie entdeckt hatte. Ich wusste, dass er es gewesen war, der SIE weggenommen hatte, nicht die Musik, er war es gewesen, doch Mama und Papa haben das nicht erkannt, und sie haben mir Musik verboten, sie sagten, sie wäre böse, wurde Unglück bringen, aber das stimmt nicht. Musik macht glücklich, Musik macht Vergessen, dass SIE ein Star geworden ist. Musik macht Vergessen, dass dieser Star erschossen wurde. Mama und Papa sagen, es war die Musik, doch ich weiß es besser, es war die Freiheit Musik zu machen, die ihren Tribut gefordert hat, die IHR das Leben genommen hat. Es war kein durchgedrehter Fan, wie alle anderen immer gesagt haben, es war die Freiheit, die Freiheit, die auch ich eines Tages erlangen will, auch wenn ich den selben Preis zahlen muss. Das ist mir egal.
Mein bester Freund war der einzige, der von allem wusste, ER kannte mich besser als SIE mich gekannt hatte. ER wusste sogar, dass mein Traum mich das Leben kosten würde. ER wusste und akzeptierte es. ER sagte immer: „Lass die Tür offen, nur einen Spalt, und deine Eltern werden erkennen, dass die Musik dich nicht unglücklich macht, mein kleines Mädchen.“ Dann lächelte ich immer und dachte, dass ER doch vielleicht Recht haben könnte, doch aus Angst, dass es nicht so wäre habe ich die Tür immer zu gelassen. Weil ER mich so gut kannte, wusste ER, was ich dachte, und lächelte traurig. Doch auch ihn habe ich nie zuhören lassen wenn ich sang, aus Angst, ER würde es nicht mögen und sich abwenden. Wenn ER auch noch fortgehen würde, hätte ich nur noch die Musik. Und ich war mir nicht sicher, ob mir die Musik so reichen würde, wie sie IHR gereicht hatte, darum ließ ich auch IHN nicht zuhören und schloss die Tür hinter mir. An dem Tag, an dem ich sie offen ließ, war ER da, ER stand dahinter, ich wusste es, doch ER wusste nicht, dass ich es wusste. Ich sang, und ER hörte mich, und ich fühlte, ER mochte es.
Am nächsten Tag stand der Produzent, der SIE mitgenommen hatte, vor unserer Tür. Er sagte, eine anonyme Person hatte ihm den Tipp gegeben, dass die jüngere Schwester des damaligen Wunderkindes, ein ebenso großes Talent war. Er wollte mich unter Vertrag nehmen. Ich wusste, wer mich verraten hatte. Ich war IHM nicht böse. ER hatte mir eine Chance gegeben, die Chance, die alles verändern konnte. Mom weinte wieder. So wie damals. Ein Déjàvu der makaberen Art. ER stand plötzlich in der Tür, und schaute mich an, als wüsste ER nicht, was ER getan hatte. Ich lächelte IHN an. Und sagte zu.
2 Jahre später war ich wie SIE geworden. Ich hatte, was ich wollte. Ich war frei. Ich konnte Musik machen, niemand hinderte mich daran. ER hatte die Klinke gedrückt, und ich hatte die Tür aufgestoßen. Sie stand so weit offen, wie sie bei IHR gestanden hatte. Und ich wusste, was das bedeutete. Ich hatte meine Konzerte mitgezählt. SIE war bei ihrem 57. Konzert erschossen worden. Ich hatte schon 56 Konzerte gegeben. Ich hatte mein Ziel erreicht. Ich wusste, was geschehen würde. Ich hatte IHM eine Freikarte für das Konzert geschenkt. Und meinen Eltern einen Brief geschrieben. Das Konzert neigte sich dem Ende, und ich sang ein letztes Mal das Lied, das ich gesungen hatte, als ER hinter der Tür stand. Ich konnte ihn sehen, ER lächelte mir zu. Und als die letzten Takte verklangen zog ER die schwarze Waffe hervor, die ich ihm gegeben hatte, zielte, und ehe die Security etwas unternehmen konnte, drückte ER ab. Der Schuss war gut gezielt, er traf mich direkt in die Brust. ER sprang auf die Bühne zu mir und beugte sich zu mir herab. „Ich hoffe du bist jetzt glücklich.“, sagte ER. Ich lächelte mit Tränen in den Augen. Die Wunde schmerzte, doch das nahm ich kaum war. Er beugte sich zu meinem Gesicht und küsste mich sanft. Verschwommen nahm ich Gebrüll war, doch der Moment war zu vollkommen, als das ich mich davon stören lassen könnte. ER hob die Pistole an seinen Kopf und drückte ab. Im selben Moment, als ich in der Dunkelheit versank begriff ich, dass ich die Tür wirklich geöffnet hatte.
Autorin / Autor: Wilhelmina, 14 Jahre - Stand: 14. Mai 2010