Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
Liebste Schwester, 25. Juni 1836
Hätte mich vor einigen Monaten ein Brief erreicht, in dem stünde, dass ich diesen furchtbaren Moment eines Tages erleben würde, so hätte ich darauf wohl mit Schwermut aber dennoch zustimmend geantwortet. Ereilte mich nun die Nachricht, dies würde schon so bald geschehen, ich hätte wohl zuerst geschockt reagiert, es nicht glauben wollen und gleich darauf das Papier mit dieser schändlichen Nachricht verbrannt.
Durch die Fenster in meinem Rücken fällt nun das späte Tageslicht. Es waren meine liebsten Stunden, um mich mit einem Gläschen Bordeaux in den Garten von Monsieur und Madame Lavie zum Zeichnen zu begeben.
Meine Schritte auf dem Weg in ein neues Leben haben zusammen mit dem Spitzensaum meines schrecklichen Kleids Staub aufgewirbelt.
Er ist überall, war es schon immer gewesen und wird es auch immer sein. Außerdem habe ich mich daran gewöhnt, Staub gehörte zu meinem Leben wie der ungewöhnliche und ebenso ungewöhnlich quietschende Holzboden vor der Eingangstür und die streunenden Samtpfoten in meinem Garten. Ich selbst fühle mich übrigens künftig, als buntgetupftes, vor Unsicherheit ganz kratzbürstiges, umher streichendes Kätzchen, ihrer Gattung angehörig.
Mein Blick richtet sich vom unbestimmten Flug der Staubpartikel auf mein Gepäck. Während ich gestern meine wenigen Habseligkeiten zusammenpackte fiel mir wieder der Sommertag ein, an dem ich, neben so vielem, die Koffer fand.
Ich strich voller Neugier durch die Zimmer und Flure meines neuen Heims, begleitet von der beständigen Frage was mich wohl alles erwarten würde?
Als ich das winzige Ankleidezimmer in der zweiten Etage betrat, bemerkte ich die Tür nicht einmal. Gerade betrachtete ich die alten, von Motten zerfressenen Vorhänge als ich einen Windhauch an meiner Wange verspürte. Ich versuchte seine Herkunft auszumachen und drehte mich zu einer der lindgrünen Wände. Die Musterung der Tapete war an mehreren Stellen unterbrochen. Nur einen Wimpernschlag später hob sich eine Tür sichtbar für mich hervor. Ich näherte mich ihr, strich mit den Fingern über die Erhebung. Mutig versuchte ich sogleich die Tür ruckartig zu öffnen. Ich erschrak fürchterlich. Ich hatte fest angenommen an einer verschlossenen Tür zu rütteln, doch diese war nur angelehnt, bereit geöffnet zu werden.
Ein muffiger Geruch schlug mir entgegen. Es war das, mir wohl vertraute, Parfüm von Geheimnissen und Geschichten. Etwas, das mich sonst wie magisch anzieht, doch es galt eine enge, verschlungene Treppe zu erklimmen, vorbei an Spinnen und anderem Getier, ohne zu wissen wohin ich gelangen würde… Du kennst mich; mein Forscherinstinkt trieb mich voran.
Was ich auf dem Dachboden fand, übertraf all meine Erwartungen. Mir eröffnete sich eine neue, unentdeckte, faszinierende Welt, die ich ohne Mut nie kennen- und zu schätzen gelernt hätte. Ich kann die Tage nicht zählen, die ich dort, umgeben von Schätzen aus weiter Ferne, verbracht habe. Wann immer ich den Dachboden, meine geheime Welt, betrat, fielen mir neue Dinge ins Auge und ich schwamm in einem Ozean aus Staub, bezaubernden Habseligkeiten, Kuriositäten und dem Leben derjenigen, die sie hierher brachten und diesen Ort erschufen.
Vor wenigen Momenten betrat ich den Dachboden zum letzten Mal. Außer den von mir verstreuten Kekskrümeln wollte ich etwas hinterlassen oder besser gesagt dieser Welt hinzufügen, in der Hoffnung, es würde jemandem eines Tages soviel bedeuten wie mir. Die Tür ließ ich angelehnt, so wie ich sie fand. Bereit, wieder geöffnet zu werden.
Oh, Schwesterherz. Ich versuche, all meine Gefühle zu benennen doch ich kann sie nicht einmal ordnen.
Ich möchte, dass du verstehst was mir dieser Ort bedeutet und warum ich mir nichts sehnlicher Wünsche als Zeit. Zeit, um zu begreifen, was dieser Schritt, und das meine ich wörtlich, dieser Schritt über exakt diese Schwelle, verändern wird.
Ich starre den schlichten Türknauf an. Diese Tür ist nicht angelehnt. Nicht bereit geöffnet zu werden und für mich erst recht nicht dazu bestimmt.
Ich öffne die Tür und lehne sie an. Mit meinen eiskalten Händen greife ich nach den Koffern; nach Erinnerungen an diesen wunderschönen Teil meines Lebens. Das Leben geht weiter, Charlotte. Dies ist niemals das Ende, Charlotte, nur muss ich tapfer sein. Ich wanke ein wenig, auch wenn die Koffer noch so leicht sind, dieser Schritt ist es nicht. Ein tiefer Atemzug, ein letztes Mal erfüllt dieser Staub meine Lungen. In einer schnellen Bewegung stoße ich mit dem Fuß die Tür auf… schreite über die Schwelle, verlasse das Haus. Ich stelle eins der Gepäckstücke ab. Der Boden quietscht. Dann strecke ich den Arm hinter meinem Rücken aus und fasse nach dem Knauf. Das Metall ist so kalt wie meine Finger. Die Luft warm und schwül.
Ein Ruck. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Rasch nehme ich das Erinnerungsstück und gehe, nein renne beinahe, über das weiche, feuchte Grass. Die Zauntür ist angelehnt und so bleibe ich nicht stehen, nicht einmal um sie zu schließen. Mein Weg in ein neues, so anderes Leben führt mich vorbei an den Häusern meiner Freunde und Bekannten. Bevor ich abbiegen muss, werfe einen letzten Blick zurück. Ich denke an meine eigenen Worte, ich denke an Tapferkeit. Mühsam hindere ich die Tränen daran, sich einen Pfad über mein Gesicht zu bahnen. Ich schlucke und flüstere mit erstickender Stimme: Au revoir.
Auf dass ich dich bald umarmen und herzen werde,
Deine Florence
P.S.: Ich werde wohl bereits in Paris angekommen sein, wirst du diesen Brief erhalten.
Dennoch, ich freue mich auf dich Charlotte, lehne deine Tür einfach an und ich werde mich willkommen fühlen.
Autorin / Autor: Saskia-Maria, 15 Jahre - Stand: 14. Juni 2010