Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
„Wo führst du uns denn hin?“, fragte ich meinen Freund Lukas, der mir und Martin in der Schule erzählt hatte, dass er etwas Irres entdeckt hatte. „Zu der alten Hütte. Da drin ist irgendwas seltsam.“ Als wir durch die morsche Tür eintraten, sahen wir überall Zerfall und Dreck. Einzig eine Tür sah neu aus - der Knauf glänzte, das Holz wirkte wie frisch gestrichen. „Die Tür passt irgendwie nicht hierher“, sagte Lukas. „Mich würde mal interessieren, was dahinter ist.“ Martin packte den Türknauf und rüttelte daran. „Sie lässt sich nicht öffnen! Ich schätze, wir können hier nichts groß machen.“ Damit wandte er sich zum Gehen und wir folgten ihm. Auf einmal hörten wir hinter uns ein Knarren! Wir drehten uns um und sahen, dass die Tür sich geöffnet hatte. Doch keiner kam heraus. Langsam gingen wir hin und Lukas stieß die Tür ganz auf. Dahinter war es schwarz, nur ein Lichtpunkt glühte schwach. „Was ist das?“, fragte Martin, machte einen Schritt durch die Tür und war urplötzlich verschwunden. „Martin!“, riefen wir und ohne zu überlegen stürzten wir ihm nach.
Hinter der Tür war kein Zimmer und etwas Merkwürdiges passierte mit uns. Wir schienen in der Finsternis zu schweben. Dann war es, als ob wir Wasser wären, das in einen riesigen Abfluss eingesaugt wird. Ich hörte uns schreien und fühlte mich wie ein Blatt im Sturm. Schließlich spürte ich Gras unter meinen Schuhen. Die Dunkelheit verschwand und neben mir konnte ich Martin und Lukas erkennen. „Was war das?“, fragte Martin und ich fügte hinzu: „Und wo sind wir?“ „Vielleicht finden wir die Antwort dort“, sagte Lukas und deutete auf das Haus vor uns. Wir näherten uns vorsichtig einem Fenster, das kein Glas hatte und schauten hinein. In dem Raum befanden sich dreizehn Männer, die auf dem Boden saßen. Zwölf von ihnen bildeten eine Art Gasse und der dreizehnte saß an ihrem Ende. Sein Gesicht lag im Schatten verborgen, doch offenbar war er der wichtigste dieser Gruppe. In der Mitte der Männer waren Speisen aufgetischt. Sie aßen noch nicht, hatten die Augen geschlossen und die Hände zum Gebet gefaltet. Plötzlich regte sich der Mann im Schatten und sagte: „Wir danken Gott für dieses gute Mahl.“ In diesem Moment stutzte Lukas: „Leute, ich glaube, das ist Jesus!“ Dessen Gesicht war nun deutlich zu erkennen und er begann, wie seine Gefährten zu essen. Ich muss zugeben, dass ich mir Jesus anders vorgestellt hatte. Seine Haut war von ungesunder Farbe, seine dunklen Augen hatten tiefe Ringe und er machte einen müden Eindruck. Offenbar dachten die anderen etwas ganz Ähnliches, denn Martin sagte gerade: „Was ist mit ihm passiert? Er sieht ja furchtbar aus!“ „Stimmt,“ sagte ich, „Wisst ihr jetzt, wo wir sind? Wir sind durch diese Tür in die Vergangenheit gereist! Und sitzen jetzt in Jesus’ Zeit fest!“ „Aber sie scheinen uns nicht sehen oder hören zu können.“ Nach einer Weile hörte Jesus auf zu essen und sagte zu seinen Jüngern: „Esst ruhig weiter, ich muss nur Judas auf ein Wort nach draußen bitten.“ Gemeinsam mit Jesus erhob sich ein großer Mann mit dunklem, langem Haar und Bart. Obwohl wir wussten, dass sie uns nicht sehen oder hören konnten wichen wir von der Tür zurück, als die beiden Männer heraus kamen. „Jesus, was bedrückt dich?“, sagte Judas mit besorgtem Blick. „Meine Verfolger sind nah und eines Tages schnappen sie mich,“ sagte Jesus. „Du weißt, dass du immer auf mich zählen kannst,“ sagte Judas ernst. „Wenn du sagen würdest: Fliehe mit mir, würde ich es tun, wenn du sagen würdest: Kämpfe für mich, würde ich es tun.“ „Es gibt etwas, was du für mich tun kannst – tun musst! Eine Mission, die ich nur dir anvertraue, weil du der treueste Freund bist. Du weißt, ich liebe die Menschen und habe ihnen stets geholfen. Wenn ich aber fliehe und mich verstecke, würde ich viele von ihnen enttäuschen und sie würden den Glauben an das Gute verlieren. Wenn ich nicht fliehe, droht mir der Tod. Doch fürchte ich mich nicht davor. Denn in den Herzen der Menschen werde ich weiter leben. Judas, ich möchte, dass du mich an meine Feinde verrätst.“ Wir alle starrten Jesus sprachlos an und Judas wirkte fassungslos: „Warum verlangst du das von mir?“ Jesus antwortete: „Du bist der einzige, der diese schwere Aufgabe erfüllen kann. Ich will nicht, dass sie mich auf der Flucht schnappen, wie einen gewöhnlichen Dieb. Ich werde ihnen aufrecht und ohne Angst entgegen treten, nachdem du ihnen gesagt hast, wo sie mich finden können.“ „Du verlangst sehr viel von mir, aber für dich würde ich alles tun, selbst dich zu verraten.“ Jesus nickte: „Ich segne dich für deinen Mut. Tu so, als ob du mich des Geldes wegen verrätst und sie werden mich und meine Jünger heute Abend im heiligen Garten finden. Den Mann, den du küsst, sollen sie verhaften. Viel Glück.“ Er umarmte Judas und verschwand im Haus. Unsere Augen waren auf Judas gerichtet, der sich mit schmerzerfülltem Gesicht umwandte und davon rannte, bis ihn die Nacht verschluckte. Fassungslos von dem gerade belauschten Gespräch standen wir mit Tränen in den Augen da, bis Martin schließlich sagte: „Wir müssen zurück! Sucht nach der angelehnten Tür, ehe sie sich wieder schließt.“ Wir verteilten uns, suchten, bis wir die richtige Stelle gefunden hatten und einer nach dem anderen kehrten wir wieder in die Gegenwart zurück.
Obwohl wir niemandem von unserem Erlebnis erzählten, schrieben wir alles in eine Art Tagebuch und sprachen auch viel miteinander. Lukas baute einen Mechanismus, der uns benachrichtigte, wann die Tür sich öffnet. Sie tat das nur manchmal und immer war es eine Überraschung, in welcher Zeit man landete. Einmal sahen wir Martin Luther dabei zu, wie er mit seinen Freunden schimpfte, weil sie seine Thesen an der Kirche angebracht hatten. Wir konnten es immer kaum erwarten, bis die Tür sich das nächste mal öffnete und sich uns die Möglichkeit zu einer neuen Fahrt in die Vergangenheit bot.
Autorin / Autor: Vera, 12 Jahre - Stand: 14. Juni 2010