Familie oder Zukunft?
Einsendung zum Schreibwettbewerb "Eine angelehnte Tür" von Beltz & Gelberg und LizzyNet
„Kommst du?“ ihre Mutter stand am Ausgang der Kartonhütte, bereit zum Aufbruch. Schnell griff sie nach ihrem Trinkbeutel und ihren Bastkorb mit den selbst gebastelten Armbändern.
Ihre Mutter wurde ungeduldig. „Komm schon! Sonst sind wir vor der Dunkelheit nicht wieder zurück“. Irine wusste wie gefährlich dies war. 15 Jahre lang hatte ihre Mutter sie vor der Kriminalität auf den Straßen und in den Slums gewarnt. Schon letztes Jahr wurde ihnen der Bastkorb ihres Vaters geklaut. Das einzige Erbstück was er ihnen hinterlassen hatte.
Sie hatten 3 Wochen hungern müssen um sich von ihren Ersparnissen Material für einen neuen Korb zu kaufen.
Irine lief hinaus. Ihre Mutter war bereits einige hundert Meter vorausgegangen.
Sie wanderten ganze 3 Stunden bis sie endlich in Accra, der größten Stadt in Ghana, ankamen.
Auf dem Markt war es heiß, staubig und voller Menschen, die sich durch die engen Zwischenräume den Ständen schoben.
Irine liebte es die verschiedenen Leute zu beobachten. Sie war nicht gern alleine.
Sie drängten sich bis hin zu dem Stand, an dem es frische Mangos zu kaufen gab und breiteten ihre Sachen zum Verkauf auf dem Boden aus.
Irine setzte sich auf den staubigen Boden. Alle Arten von Menschen eilten an ihr vorbei. Plötzlich fiel ihr ein in einen schwarzen Anzug gekleideter Mann auf. Er hatte dunkelbraune Haare mit Geheimratsecken und einigen grauen Stellen. Er war um einiges größer als die anderen Menschen und fiel vor allem durch seine helle Haut und sein gepflegtes Äußeres auf.
Als er sah, dass Irine ihn beobachtete, lächelte er kurz und kam auf sie zu.
Irine erschrak. „Hallo Kleine. Magst du Bonbons?“ fragte der Fremde und holte ein paar kleine gelbe und grüne Bonbons aus der seiner Tasche und streckte sie Irine entgegen. Sie zögerte, aber dann nahm sie sie und bedankte sich. Als der Fremde ihre Stimme hörte, zog er die Augenbrauen hoch. „Du hast aber eine schöne Stimme. Wie heißt du denn?“ „ Irine“, antwortete das Mädchen. „ Kennst du ein schönes Lied was du mir vielleicht vorsingen möchtest?“ Irine dachte nach. Was wollte der Fremde von ihr? Sie hatte viel von Menschenhändlern gehört und ihre Mutter hatte ihr immer zu Vorsicht geraten. Doch ihre Mutter verhandelte grade mit einer hochschwangeren Frau und sah sie und den Fremden nicht. Aber der Fremde wirkte nett und sie vertraute ihm. Irine kannte nur das eine Lied. Das, das ihre Mutter ihr früher immer vorgesungen hatte. Sie begann zu singen und je mehr sie sang, desto mehr veränderte sich der Gesichtsausdruck des Fremden. „Hast du schon mal gesungen?“, fragte er erstaunt. „Nein?!“. Irine wunderte sich. Dann fasste sie all ihren Mut zusammen und fragte den Fremden nach seinem Namen. „Ich bin Mr. Goodwin. Ich arbeite in einem Tonstudio und ich suche neue Gesangstalente. Wenn du willst kannst du nächste Woche mal in unserem Tonstudio vorbeischauen, dann können wir ein paar Probeaufnahmen machen.“ Irine verstand den Fremden nicht. „Was habe ich denn dann davon?“, fragte sie. Der Mann lächelte. „Du könntest viel Geld damit verdienen, nach Europa reisen und große Auftritte haben.“ Er nahm einen Zettel und schrieb seine Adresse in Accra auf. „Ich muss leider jetzt los aber ich würde mich freuen, wenn du mal bei uns vorbeischauen würdest.“ Dann ging er ohne sich noch einmal umzuschauen.
Irine wusste zwar nicht wo Europa lag und was sie dort erwarten würde, aber sie war neugierig und würde gerne so viel wie möglich von der Welt sehen.
Fünf Wochen später:
Die Probeaufnahmen waren gut gelaufen und Mr. Goodwin hatte ihr angeboten sie mit nach Europa zu nehmen. Heute musste sie sich entscheiden. Entweder sie ging mit Mr. Goodwin nach Europa, hatte große Auftritte und konnte ein neues Leben in Europa anfangen oder sie würde für immer bei ihrer Familie im Slum vor Accra bleiben und für sie Sorgen und Geld verdienen. Doch wenn sie sich entschied mit ihm zu gehen würde sie ihre Familie nie wieder sehen. Nicht einmal Geld oder einen Brief konnte sie ihnen schicken, da sie im Slum keine Adresse hatten.
Irine zögerte. „Büro Mr. Goodwin“ stand auf dem kleinen goldenen Schild links neben der Holztür. Sie musste sich entscheiden. Für ihre Familie oder ihre Zukunft.
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Autorin / Autor: Ann-Christin und Daria, 16 Jahre - Stand: 15. Juni 2010