Eisprinzessin - Teil 5
von Janka Katharina Hardenacke
Weder Nathan noch meiner Mutter erzählte ich von dem Zettel, den ich in meiner Schreibtischschublade aufbewahrte. Erst hatte ich ihn wegwerfen wollen, aber dann hatte ich mich seltsamerweise nicht getraut. Eigentlich war ich mir sicher, dass sich irgendeiner aus meiner Schule einen dummen Streich erlaubt hatte. Eigentlich.
Am nächsten Tag war ich mit Nathan bei ihm zu Hause verabredet. Sein Großvater öffnete mir die Tür. Ich sah ihm zum ersten Mal, doch ich hatte keine Scheu vor ihm, als er mich mit seinem verschmitzten Mund anlächelte und die faltige Stirn zusammen zog. „Na dann komm mal rein junge Dame. Nathan hat mir schon viel von dir erzählt!“ Und so, wie er das sagte, schien es zustimmen. Neugierig aber nicht unangenehm glitt sein Blick über mein Gesicht, als wollte er überprüfen, ob Nathan ein wichtiges Detail ausgelassen hatte. Einen Augenblick später kam dieser aus dem Zimmer direkt neben der Tür, in Jacke und Turnschuhen. Ich ging hinter ihm durch die Haustür. Er drehte sich um und lachte mich an. Da bekam ich ein merkwürdiges Gefühl. Wahrscheinlich war es eine Vorahnung gewesen. Doch an jenem Nachmittag konnte ich nicht ahnen, dass dies mein letztes Treffen mit ihm sein würde. Und so versuchte ich dieses Kribbeln, diese leichten Stiche in der Magengegend mit einem ebenso freimütigen Lachen zu verscheuchen.
Hinter dem Haus lag ein kleiner Wald. Wir schlugen uns durch Äste, umgefallenen Bäume und hochgewachsenes Gras. Nach kurzer Zeit standen wir am Rand einer Lichtung. Ich trat in die Mitte, breitete die Arme aus und drehte mich im Kreis. Ein grüner Strudel schien mich zu verschlucken. Lachend ließ ich mich auf die Erde plumpsen. Nathan hatte es sich auf einer riesigen Baumwurzel bequem gemacht, die aus der von Tannennadeln übersäten Erde ragte. Eilig lief ich zu ihm und kletterte ein Stück höher. Nun konnte ich sowohl die Lichtung und Nathan überblicken, der inzwischen ein rotes Buch aus seiner Tasche geholt hatte. „Schließ die Augen!“, befahl er. Widerwillig gehorchte ich. Dieser Ort war eigentlich viel zu schön. Ich wollte meinen Augen diesen Platz nicht vorenthalten. Doch dann begann Nathan zu lesen. Seine tiefe Stimme streichelte jedes Wort.
„Du warst es, den ich suchte, doch wissen tat ich’s nicht.
Die Welt, die ich verfluchte, nahm nebelgrau die Sicht.
Die eine Träne rollte, getrocknet von dem Klang,
von der, die es so wollte, die mir das Schlaflied sang.
Sagen muss ich es nun laut, damit es jeder hören kann.
Die wunderschöne Fee hier, schaut, mein Herz für immer sich gewann!“
Das war das schönste Geschenk, das ich je bekommen hatte. Ein Gedicht, von ihm, für mich!
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Autorin / Autor: Janka Katharina Hardenacke - Stand: 6. Februar 2009