Ich hab mich trotzdem lieb
In einem Interview erzählt Eva, warum sie sich in ihrer Jugend geritzt hat...
Um die 800 000 Mädchen greifen mehr oder weniger täglich zur Rasierklinge, um sich die Haut aufzuritzen, schlagen ihren Kopf an die Wand oder brennen sich mit der Zigarette Löcher in den Arm. Das sind keine Verrückten, sondern ganz normale Mädchen mit den gleichen Problemen wie ihre gleichaltrigen Freundinnen - nur mit dem Unterschied, dass sie mit ihren Gefühlen nicht auf eine "gesunde" Art und Weise umgehen können. Fast immer beginnt selbstverletzendes Verhalten in der Pubertät, in einer schwierigen Zeit, wo alles im Umbruch ist und man plötzlich für sich selbst verantwortlich ist. Diese ganzen Gefühlskapriolen - mal rauf, mal runter - von tiefster Depression über Wut bis hin zu ekstatischer Freude - sind nicht einfach auszuhalten. Wenn die Umgebung nicht sehr einfühlsam damit umgeht, oder man selbst auch nicht so gut über seine Gefühle sprechen kann, dann gerät man ganz schön unter Druck. Auch einige von den Lizzys sind "SVVlerinnen" (SVV=Selbstverletzendes Verhalten), wie sie sich selbst nennen und treffen sich im Club "Kummer&Trost", um sich auszutauschen. Wir haben mit Eva gesprochen, die jetzt 29 ist und sich als Jugendliche geritzt hat.
*Wie alt bist du jetzt und in welchem Alter hast du dich geritzt?*
Ich bin heute 29 Jahre alt und mache seit 5 Jahren Therapie. Mit dem "Ritzen" begann ich mit ca. 14 Jahren. Als ich aufhörte war ich ca. 16 Jahre alt.
*Könntest du sagen, welche Gründe dazu geführt haben?*
Ich war geladen. Ich hatte Agressionen. Ich war traurig. Mein zu Hause war ein Alptraum, die Schule war ein Alptraum, kurz: mein ganzes Leben war ein Alptraum. Und es gab kein Entrinnen. Wo sollte ich auch hin mit 14 Jahren? Irgendwann sah ich Wunden an meinen Freundinnen und fragte sie, was sie da denn machen. Anfangs war ich schockiert und fasziniert gleichermaßen. Eine Möglichkeit, ein Weg mich zu äußern, eröffnete sich vor mir. So konnte ich meinen inneren Schmerz von außen endlich mildern.
*Was wolltest du damit ausdrücken? Hatte das was mit Aggression zu tun?*
Zu Beginn sicherlich Agressionen und Wut. Aber auch das Gefühl der Macht mit meinem Körper zu tun, was ICH wollte. Mein Leben damals war sehr bestimmt durch andere - leider auch sehr willkürlich bestimmt... Ohnmacht war auch dabei, weil ich nichts an der Situation zu Hause und in der Schule ändern konnte. Ich empfand Verzweiflung, weil ich unbedingt aus "meiner Haut raus" wollte. Das Ritzen war mein destruktiver Versuch zu transformieren. Ich wollte jemand anderer sein. Jemand, mit einer anderen Geschichte und einem anderen Schicksal. Es war eine sehr dunkle und auch graue Zeit. Ich selbst empfand mich als grau, ich wollte mich verwandeln. Aus der Raupe sollte ein Schmetterling werden. Da ich nur Schmerz kannte, fügte ich mir selbst noch mehr Schmerzen zu, um endlich... tja, ich weiß heute selbst nicht mehr genau, was daraus werden sollte.
*Gab es Reaktionen von deiner Umwelt darauf?*
Meine Ritzerfreundinnen und ich haben uns natürlich gegenseitig angestachelt. Die Wunden haben wir immer wieder nachgeritzt, damit man die Wunden auch sah bzw. um eine Narbe enstehen zu lassen. Wir haben uns dann immer wieder versichert, wie schön bzw. faszinierend das aussah. Es war schauderhaft und schön zugleich. Heute fällt mir auf, dass wir es niemals voreinander gemacht haben. Es war dann doch eine sehr intime Angelegenheit. Andere Klassenkameraden haben sich darüber lustig gemacht und mir den Vogel gezeigt, aber das war mir egal. Was wussten die denn schon! Meine Mutter überraschte mich eines Tages beim Ritzen. Sie wurde ziemlich sauer, als sie die Wunden sah, und forderte mich auf ihr alle Wunden zu zeigen. Ich reagierte trotzig und verschlossen. Sie warf dann alle Rasiermesser einfach weg. Ich habe mir dann wieder neue gekauft. Ansonsten sorgte ich immer dafür, lange Hosen und Ärmel zu tragen. Das verdeckte die Wunden recht gut.
*Fandest du das Ritzen damals schlimm? Und wie stehst du heute dazu?*
Mich zu ritzen fand ich damals nicht schlimm. Es war eine Ausdrucksform. Eine Möglichkeit, eine Freiheit zu verspüren mit meinem Körper tun zu können, was ich wollte. Keiner konnte mir da reinreden und keiner konnte mich daran hindern. Ich fühlte mich gehindert, behindert und fremdbestimmt von meinem Umfeld. Ich konnte mich nicht umbringen, und das Ritzen war für mich eine angenehme Alternative. Heute würde ich gerne dieses heranwachsende, unglückliche und verzweifelte Mädchen in den Arm nehmen und immer wieder sagen: "Alles wird gut. Du brauchst dir nicht weh zu tun. Dein Leben wird voller Veränderungen sein, und du wirst noch so viel verändern. Deine Zeit wird kommen." Anschließend würde ich es mitnehmen und an einen sicheren Ort bringen. Ich war damals so alleine und hoffnungslos... Rückblickend bin ich froh und stolz auf mich, diese schwere Zeit überlebt zu haben.
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Autorin / Autor: Rosi und Eva - Stand: 29. September 2003