Der Schein trügt - Teil 4

von Ann-Katrin Kinzl

3. Kapitel

Sehr geehrter Mr. Brendt,
leider hatte ich bisher noch nicht das Vergnügen, Sie persönlich kennenzulernen. Der Grund warum ich Ihnen nach so langer Zeit schreibe, ist, dass ich nicht länger mit der großen Schuld leben kann, die ich unbedachterweise in meiner Jugend auf mich geladen habe.
Ich war damals sehr jung, jedoch war ich alt genug um zu wissen, was ich tat, als ich Mitwisser an jener schrecklichen Tat war, die Ihrer Mutter das Leben gekostet hat. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nichts, ja rein gar nichts, unternommen habe, um den wahren Täter zu entlarven.
Zunächst möchte ich Ihnen meine Geschichte jedoch ganz von Anfang an erzählen.
Ich war 18 Jahre alt und frisch verliebt in Jane Funderstow, spätere Hemmingway. Sie liebte mich, doch war ich bürgerlich und unvermögend, ein Dorn im Auge ihres Vaters. Der alte Funderstow hatte sich stattdessen George Hemmingway, einen allseits geschätzten und vermögenden Sohn eines Industriefabrikanten, als zukünftigen Schwiegersohn auserkoren. George war Jane gegenüber kühl und emotionslos, da er nur Gefühle für Jules Gardiner, Ihre Mutter, Evan, hegte. Jules war jedoch nur die Tochter des Gutsverwalters und natürlich nicht standesgemäß. So musste George wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und ich glaube, er und Jane führten eine recht harmonische Ehe. Sie verstand ihn zwar nicht, ließ ihm jedoch alle Freiheiten. Als Gegenleistung verlangte sie nur eines: Luxus.
Glauben Sie mir, es tut mir weh, so von ihr zu sprechen, aber ich habe erkannt, dass sie schon lange nicht mehr die Frau ist, die ich geliebt habe.
Nun zwei Jahre später starb George an der spanischen Grippe und hinterließ seine Ehefrau und seine schwangere Geliebte, Jules Gardiner, ihre Mutter.
Kurz vor seinem Tod noch, hatte er Sie, ohne Janes Wissen, als Alleinerben eingesetzt. Somit hätten Ihnen alle Familiengüter und das ganze Vermögen zur Verfügung gestanden.
Ich werde nie Janes Gesicht vergessen, als sie es ein Jahr nach seinem Tod erfuhr. Sie war weiß wie Kalk und kalt wie Stein.
Von diesem Tag an war sie nie wieder die Jane meiner Erinnerung. Wutentbrannt ritt sie zu dem Haus, das George Ihrer Mutter geschenkt hatte. Ich ahnte, zu was sie im Stande war und ritt ihr nach.
Sie war völlig außer sich und nicht zurechnungsfähig. Ich hätte sie aufhalten müssen, doch ich befürchte, ich war zu schwach. Sie schrie Jules an, drohte ihr mit einer Klage, doch nichts schien Ihre Mutter zu beeindrucken. Jane bot ihr Geld an, flehte sie geradezu an, ihr nicht das Geld und das Haus zu nehmen. Jules jedoch wollte den letzten Willen von George erfüllen. Sie waren der einzige Erbe, der einzige Sohn von George Hemmingway. Jane hätten lediglich einige Tausend Pfund Pflichtanteil pro Jahr zur Verfügung gestanden. Das wäre ihr Ende gewesen.
Jules brachte an diesem verhängnisvollen Tag das Fass zum Überlaufen. Schließlich rüttelte Jane Ihre Mutter an den Schultern. Jules verlor das Gleichgewicht und fiel die Haupttreppe hinunter.
Alles ging so schnell, die blutende und bewegungslose Jules, die zitternde Jane und schließlich ich, ein damals 18-jähriger unbeholfener Bengel. Und zu allem Überfluss stand ein Stück hinter Jane ein kleiner Junge von drei Jahren, die schreckgeweiteten Augen auf Jules gerichtet. Evan, Sie hatten den ganzen Mord mit angesehen.
Jane flehte mich an, ihr zu helfen. Sie war so ängstlich wie ein Kind. Und ich Tölpel, unbeholfen wie ich war, fiel auf dieses Schauspiel herein. Sie weinte und beteuerte, dass das alles nur ein Unfall gewesen sei und sie das alles doch nicht gewollt habe. Ich versuchte ruhig zu bleiben und nahm die Sache in die Hand.
Damals war ich mir sicher, dass Jane mir ewig dankbar für meine Hilfe und mein Schweigen sein würde.
Doch es verlief alles ganz anders. Die Tat war grausam, aber das sah ich damals nicht.
Ich befahl Jane, den großen Teppich aus der Vorderhalle zu holen, während ich die Treppe hinaufstieg, um Sie, Evan, zu beruhigen und vom Tatort wegzulotsen. Sie wollten zu Ihrer Mutter, schrien und heulten, schlugen mit den Fäusten wild um sich. Ich brachte Sie unter größter Mühe ins Bett und gab Ihnen ein paar Tropfen Schlafmittel.
Jane hatte Jules unterdessen in den Teppich eingewickelt und alle Blutspuren aufgewischt.
Wir luden Jules aufs Pferd und konnten glücklicherweise unbemerkt zum Gut der Hemmingways gelangen.
Es war bereits dunkel und wir waren ratlos, wo wir die Leiche einer allseits bekannten Frau einfach so los werden könnten, ohne dass man Verdacht schöpfen würde.
Schließlich kam mir die Idee.
Wir vergruben Jules direkt neben Georges Grab im Garten. Wir setzten die schönsten Rosen darauf, die es in ganz England gab und beteten inständig für Jules Seele. Im Nachhinein wurde mir erst klar, dass Jane wohl alles heuchlerisch gespielt hat.
Wir waren so erleichtert, dass wir beinahe vergaßen, dass es einen Zeugen am Mord von Jules gab.
Jane war hysterisch, sie wollte, dass ich Jules Sohn tötete. Zunächst einmal ging es ihr darum, keinen Mitwisser an ihrer Schuld zu haben. Zum größten Teil jedoch war sie besorgt um ihr Geld. Evan, Sie waren immer noch der Erbe von George Hemmingway.
Ich war verzweifelt, wollte ich doch die Frau, die ich liebte, nicht verlieren. Doch was hätte ich tun sollen?
Also lief ich zu Jules´ Haus. Ich erinnere mich noch - es war seltsam kühl dort. Ein Hauch von Tod lag in der Luft. Auf Zehenspitzen schlich ich an das Bett. Doch als ich Sie dort liegen sah, bekam ich Angst. Ich konnte doch nicht ein wehrloses, kleines Kind töten. Ein Junge, der auch mein Sohn hätte sein können! Doch was hätte ich tun sollen? Jane wäre außer sich vor Wut gewesen und hätte die Sache schließlich selber in die Hand genommen. Ich sehe mich noch heute Nacht für Nacht am Kinderbett stehen, die Pistole an die Schläfe eines kleinen Jungen drückend.
In diesem Moment größter Not kam mir der rettende Einfall, das Kind für tot zu erklären und Jane zu belügen. Den Rest meiner Erzählung, wissen Sie wohl selbst am besten zu ergänzen. Ich legte Sie vor ein Waisenhaus in London und hinterließ einen Zettel mit einem falschen Namen: Evan Brendt.
Sie müssen mir glauben, ich habe mir das alles nicht leicht gemacht. Evan, ich schreibe Ihnen diesen Brief, weil ich weiß, dass es unmenschlich wäre, Ihnen nicht zu sagen, was passiert ist. Jedoch muss ich Ihnen und mir selbst wohl auch eingestehen, dass ich es größtenteils tue, um nicht mit einer so großen Last auf den Schultern zu sterben.
Ich kann und darf nicht von Ihnen verlangen, dass Sie mir verzeihen. Sollten Sie das Bedürfnis haben, mit mir zu reden, erreichen Sie mich unter:

Paul Fenley
Richwaystreet 12
London

Ich könnte verstehen, wenn Sie mich nicht sehen wollen, dennoch würde ich mich sehr freuen, zu sehen, was aus Ihnen geworden ist und wie es Ihnen geht. Ich kann die Zeit leider nicht zurückdrehen, auch wenn ich es gerne tun würde.

Mit Hochachtung
Paul Fenley


MacPhee schaute auf. Der Brief hatte alles in ihm aufgewühlt und ihn durcheinander gebracht. Er traute sich kaum, die grünen Augen von Evan Brendt alias Evan Gardiner zu streifen. Als er es doch tat, konnte er gerade noch sehen, wie eine klare Träne aus Evans Augen auf den Tisch fiel. Evans große Hand ballte sich zu einer Faust und es war für alle umstehenden klar, wie sehr es ihn mitgenommen hatte, die geschriebenen Worte noch einmal zu hören.

„Könnten Sie bitte diesen Brief meiner Frau geben? Es ist sehr wichtig.“
MacPhee war sehr gerührt und konnte nur leicht mit dem Kopf nicken, ehe er sich zusammen mit Mr. Watson und Edward Davis auf den Weg machte, um Mrs. Rosalie Brendt, ehemals Miss Rosalie Westham, zu besuchen.
Beim Verlassen des Raumes drehte MacPhee sich noch einmal um. Mr. Watson zerrte ungeduldig an MacPhees Hosenbein, doch MacPhee achtete nicht darauf. Stattdessen bedachte er Evan mit einem angedeuteten Lächeln und sagte mit ruhiger Stimme: „Machen Sie sich keine Sorgen. Die Wahrheit kommt immer ans Tageslicht!“

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Autorin / Autor: Ann-Katrin Kinzl - Stand: 1. Juli 2010