Sam Fox stand wieder einmal im Regen, im wahrsten Sinne des Wortes. Seit fast einem halben Jahr jagte er Dred ohne den geringsten Erfolg. Gestern früh hatte er seine Chance gehabt, ihn hinter Gitter zu bringen, nachdem er ihm davor oft über den Weg gelaufen war und immer versagt hatte. Er war Laure etwas schuldig.
Er konnte sich nicht daran erinnern, dass das Wetter jemals grässlicher gewesen war. Er fror nicht mehr. Er achtete nicht mehr darauf. Dred konnte nicht lange fort sein. Er war zu Fuß. Er war irgendwo hier im Regen. Fox würde ihn finden, bevor es irgendjemand anders tat.
Laure war dort oben gewesen. Er hätte sie einfach zurücklassen können. Denk wie er, Sam, dachte er, denk wie Dred. Wohin würdest du gehen?
Und plötzlich begriff er. Er blieb stehen und sah sich um. Der Fluss. Er hätte sich überall verstecken können, in den heruntergekommenen Lagerhallen und verlassenen Wohnblöcken, in Hinterhöfen, in Gassen und leeren Straßen.
Aber so dachte Dred nicht. Dred hatte keine Strategie. Er hatte keinen Plan.
Sam Fox drehte sich um und überquerte die Straße. Es war nicht weit bis zu der großen Brücke. Der Regen hing wie Nebel über dem Fluss. Wasser donnerte an die Brückenpfeiler. Plötzlich wusste er, dass er in die richtige Richtung lief.
Sam Fox begann zu rennen.
„Hab keine Angst“, sagte Dred lächelnd. „Es wird alles gut. Es hört bald auf zu regnen, hörst du?“ Er legte den Kopf zurück, der Regen lief ihm in den Kragen, kroch in seine Kleider, Regen und Blut. Seine Hände brannten. Laure bewegte matt den Kopf. Er schloss die Augen. Der Fluss war ein reißender Strom und der Regen ließ ihn toben wie ein Tier, wie eine Bestie.
Fox erreichte die Brücke. Er war nie ein guter Sportler gewesen. Er wusste, dass die anderen hinter seinem Rücken über ihn spotteten. Vielleicht sollte er sich überlegen, nach dieser Geschichte regelmäßig zu joggen oder wenigstens spazieren zu gehen.
Als Dred den Kopf senkte, fiel sein Haar in Laures Gesicht. Er schob den Arm in ihr Genick. Beinahe zärtlich küsste er sie auf die Stirn. Er schmeckte Regen. Das Geländer drückte kalt in seine Rippen. Er fragte sich, ob es sich anfühlte, als ob man flog und murmelte noch einmal: „Ich mache alles wieder gut, Laure, Laure.“ Ob es war, als ob man schwebte, wenn man im eisigen Wasser versank? Vielleicht. Vielleicht.
Sam Fox zog seine Waffe. Seine Beine schmerzten. Er verlangsamte seine Schritte und richtete die Waffe auf den Mann, der zwanzig Schritte entfernt am Geländer stand. Er ging auf ihn zu, die Waffe erhoben und glaubte zu spüren, wie der tosende Fluss die Brücke erschütterte.
„Leg sie auf die Brücke, Dred“, befahl er laut und sehr ruhig. „Leg sie hin.“
Dred reagierte erst gar nicht. Als er schließlich den Kopf wandte, leuchtete sein Gesicht unter dem dunklen Haar bleich im Regen. Laures Körper hing leblos in seinen Armen. Mühelos hielt er sie.
Über das Gesicht des Killers zuckte ein Lächeln.
„Du kommst zu spät, alter Mann“, hörte Fox ihn mit rauer Stimme sagen. „Sie ist tot“.
Fox zielte auf seinen Kopf. Er sah aus, als sei er gerannt. Niemand sonst war mit ihm gekommen.
Dred ging langsam in die Knie und legte Laure vorsichtig auf den nassen Asphalt der Brücke, ganz vorsichtig und ließ ihren Kopf behutsam zu Boden sinken. Er widerstand der Versuchung, ihr das Haar aus dem blassen Gesicht zu streichen. "Bald, Laure", versprach er ihr. "Ich muss nur kurz etwas erledigen. Ich bin bei dir, Laure. Ich bin bei dir. Ich mache alles gut".
Er richtete sich auf. Seine Knie schmerzten dumpf. Er zog seine Waffe und ging langsam um Laures Körper herum auf den Alten zu.
„Bleib stehen“, sagte der Alte bemerkenswert ruhig. Dred richtete seinerseits seine Waffe auf ihn.
„Du hast uns gestört, alter Mann“, erwiderte er. Wut kroch dumpf in ihm hoch. Er verspürte keine Angst. Fox ging keinen Schritt zurück. Dred dachte an sein Versprechen. „Sie ist tot.“
„Lass die Waffe fallen.“
„Nein“, sagte er und schoss.
Sam Fox wartete auf den Schmerz, die Hand noch immer erhoben, aber er kam nicht. Dred stand da und starrte ihn an und in seinen dunklen Augen stand Verwirrung.
Sein Griff löste sich, die Waffe fiel ihm aus der Hand und mit einem dumpfen Geräusch zu Boden, auf den nassen, schimmernden Asphalt. Eine Weile stand er da, dann griff er sich an die Schulter und betrachtete verblüfft seine blutbeschmierten Finger.
Fox drehte sich um. Jelen kam auf ihn zugelaufen, ihre Waffe in der Hand, in Begleitung mehrerer Kollegen. Er begriff. Sie hatten es geschafft.
Innerhalb weniger Augenblicke hatten die Männer Dred überwältigt.
Jelen fiel neben Laure auf die Knie. Sie hörte Rufen und den Lärm des Flusses und das Heulen von Sirenen von irgendwoher. Laure lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen, das Gesicht nass und blutig. Jelen ließ ihre Waffe achtlos fallen und tastete nach ihrem Puls.
Jemand trat neben sie und legte ihr die Hand auf die Schulter. Fox schwieg.
Laures Haut war kalt und feucht. Erst spürte sie gar nichts und dann den dumpfen, fernen Schlag ihres Pulses, so schwach, dass sie erst glaubte, sich zu irren. Ungläubig strich sie Laure das Haar aus der Stirn.
„Sie lebt“, hörte sie sich mit bebender Stimme sagen. „Sie atmet …“
Fox nahm die Hand von ihrer Schulter. Die Sirenen kamen näher. Jelen liefen Tränen über die Wangen. Sie schlug mit zitternden Fingern Laures Jacke zurück, tastete nach ihren Wunden. Sie trug notdürftig angelegte Verbände, dunkel vom Blut. Es war ein Wunder.
Sie drehte sich um.
Dred stand, mit dem Oberkörper halb über das Geländer gedrückt und mit auf den Rücken gedrehten Armen ein paar Schritte entfernt. Zu seinen Füßen war Blut. Der allmählich nachlassende Regen wusch es fort. Er wurde von mehreren Männern festgehalten und als hätte er Jelens Blick bemerkt, sah er plötzlich in ihre Richtung.
Regen lief ihr übers Gesicht. Ihre Beine waren taub und kalt und das dumpfe Gefühl von Schmerz drückte auf ihr Bewusstsein. Sie erinnerte sich vage an das ferne Rauschen von Regen und an lähmende Atemnot und eine raue, dunkle Stimme. Kälte kroch ihr in die Lungen. Sie konnte nicht denken. Jemand hielt ihre Hand. Zu atmen tat weh.
Sie zerrten ihn vorwärts, aber er blieb abrupt stehen. Er starrte nicht Fox an, nicht Jelen, sein Blick blieb erstaunt auf Laure gerichtet, die in diesem Augenblick kaum merklich den Kopf wandte.
Dreds verkrampfte, angespannte Haltung im Griff der Männer löste sich.
Laure schlug die Augen auf. Einen Moment schien sie nichts zu sehen. Dann blickte sie ihn an.
Sie wusste, dass er es war, als sie sein Gesicht sah. In ihrer Brust pochte der Schmerz. Sie glaubte noch immer, seine Arme um ihren Rücken und seinen unruhigen, warmen Atem in ihrem Haar zu spüren und ihn leise, voll Zärtlichkeit wimmern zu hören. "Laure, Laure, alles wird gut, Laure".
Ein zärtliches Lächeln erschien auf Dreds Gesicht. Er wurde grob fortgezerrt. Jelen Stejzci hörte die Sirene des Krankenwagens am anderen Ende der Brücke und während sie mit Fox neben Laure wartete, ging der Killer, den sie Dred getauft hatten, seiner Verhaftung entgegen.
Es war der Morgen, an dem der Regen endlich aufhörte.
Autorin / Autor: Moira Frank - Stand: 2. Juli 2010