Versprochen mit acht
Über arrangierte Ehen in Indien
In Indien sind arrangierte Ehen an der Tagesordnung. Die Eltern suchen für ihre Kinder die Ehepartner aus. Für manche Mädchen endet das in einer Zwangsheirat. Trotzdem finden viele Inderinnen arragangierte Ehen romantisch.
Den Sonntagabend hat Shantala immer für ihren 23jährigen Freund Aschisch reserviert. Dann kann sie ihn endlich treffen – heimlich. Denn die 18-jährige Krankenschwesternschülerin ist seit ihrer Kindheit einem anderen versprochen. Damals haben ihre Eltern die Heirat mit dem Sohn der Nachbarsfamilie arrangiert. Ein in Indien wirksamer Ehevertrag wurde unterzeichnet. Shantala und ihr zukünftiger Ehemann waren damals gerade einmal acht Jahre alt.
Shantala stammt aus den nordwestlich gelegenen indischen Wüstenstaat Rajasthan – einer Region, in dem die Frauen so gut wie keine Rechte haben.
*Ausbrechen? Dann wirst du verstoßen!*
„Ich denke nicht an morgen!“ sagt Shantala und wirft ihr langes schwarzes Haar zurück. Dann lächelt sie schüchtern und sagt: „Wenn ich das täte, könnte ich nur weinen.“ Denn in zwei Jahren wird sie verheiratet. Bitter sagt sie: „Sobald ich mit meiner Ausbildung fertig bin, werde ich mit Rajiv verheiratet. Egal, ob er oder ich das möchte.“ Rajiv, den Sohn der Nachbarsfamilie, hat Shantala seit Monaten nicht gesehen. Er studiert in Chennai (Madras). „Wir sind zusammen aufgewachsen, er ist wie ein Bruder für mich. Aber ich möchte Rajiv nicht heiraten. Ich liebe ihn nicht. Ich liebe Aschisch.“ Mit dem Medizin-Studenten ist sie schon seit einigen Monaten fest zusammen. Für Shantala ist das ein echtes Risiko: „Wenn meine Eltern erfahren, dass ich hier einen Freund habe, dann werde ich aus der Familie verstoßen.“
*Es könnte so einfach sein…*
Und so verlässt Shantala das Schwesternwohnheim am Sonntagnachmittag mit ihrer Mitbewohnerin und Freundin Muta. Alleine dürfte Shantala das Campus-Gelände nicht verlassen. Denn die Regeln für die Krankenschwesternschülerinnen sind sehr streng. Überall auf dem Campus arbeitet Wachpersonal, so genannte Chief Wardens, die jedes unsittliche Verhalten sofort dem College und dann den Eltern melden würden. Und so muss Muta Shantala jeden Sonntag helfen, sich mit Aschisch zu treffen. Die Mädchen verlassen das Wohnheim, überqueren den Campus und laufen zu einer abgelegenen Stelle, an der Aschisch schon mit seinem Motorrad auf seine Freundin wartet. Gemeinsam fahren sie zum „End Point“, einer verlassenen Felsengegend, an der sich die Pärchen in aller Ruhe heimlich treffen können. Dann schauen sie den Sonnenuntergang an und träumen davon, wie es sein könnte, wenn sie sich ohne alle Regeln sehen könnten. Für Aschisch und seine Familie wäre das sogar kein Problem. Der Medizinstudent stammt aus Dehli, sein Vater ist ein angesehener Arzt, sein älterer Bruder hat gerade seine Freundin geheiratet – aus Liebe. Aschisch erzählt: „Mein großer Bruder hat sich in seine Kommilitonin verliebt. Und nach dem Studium haben sie geheiratet. Vorher haben sich die Familien kennen gelernt. Man könnte sagen, es war eine arrangierte Liebesheirat. Viele Ehen entstehen in Indien so. Und ich würde mir wünschen, dass es für mich und Shantala auch so ausgehen könnte.“ Aschischs Eltern haben sie sogar schon kennen gelernt – und waren begeistert. Shantala sagt: „Aschischs Vater hat angeboten, mit meinen Eltern zu sprechen. Aber ich weiß, dass sich meine Eltern nicht umstimmen lassen.“ Shantala fürchtet, wenn ihre Eltern von ihrer Beziehung zu Aschisch erfahren, würde sie ihre Ausbildung in Manipal sofort abbrechen müssen und könnte ihren Liebsten nie wieder sehen.
*„Arrangierte Ehen sind romantisch“*
Indira ist 22 Jahre alt – und wurde vor einem Jahr verheiratet. Sie studiert ebenfalls an Shantalas College und sagt: „Ich finde, arrangierte Ehen haben auch etwas für sich.“ Indira kannte ihren Ehemann vor ihrer Hochzeit nur flüchtig. „Nadir ist der Sohn eines Kollegen meines Vaters.“ Als Indira zum Studieren ihre Familie verließ, begann ihre Mutter, sich nach einem geeigneten Ehemann für ihre Tochter umzusehen. Zur gleichen Zeit waren auch Nadirs Eltern auf der Suche nach einer Schwiegertochter… nach einigen Treffen der Eltern war klar: Indira und Nadir würden zueinander passen.
„Eine arrangierte Ehe ist kein Essen aus einem Schnellrestaurant. Es ist vielmehr ein fünf Sterne Gericht mit mehren Gängen, das mit viel Zeit und Liebe gekocht wurde“, sagt India lachend und erklärt: „Die Familien treffen sich, lernen sich besser kennen und schauen, wie die Kinder zusammen passen. Es kommt dabei auf die richtige Mischung an. Meiner Mutter war es wichtig, dass mein Mann nicht nur Karriere macht, sondern auch höflich, verständnisvoll und romantisch ist. Dass er die gleichen Interessen hat, aber auch ganz anders als ich ist. Sie weiß, dass ich manchmal sehr zickig sein kann. Darum wollte sie einen Mann für mich, der sehr ruhig ist. Und Nadir erfüllt alles das. Außerdem ist seine Mutter zu einer echten Freundin von meiner Mutter geworden. Es passt einfach alles.“
*Ein große Geste elterliche Liebe*
Als Indira in den Semesterferien nach Hause fuhr, präsentierten ihre Eltern ihr Nadir. „Und da hab ich mich dann verliebt“, lächelt die 22-Jährige. Auch Nadir ging es so. Trotzdem haben sich beide noch fast ein Jahr Zeit mit der Hochzeit gelassen. Nadir sagt: „Wir fanden, wir waren noch etwas zu jung zum Heiraten. Außerdem wollten wir uns noch ein wenig besser kennen lernen. Und noch etwas unsere Studentenzeit genießen.“ Heute – nach einem Jahr arrangierter Ehe – sind beide noch immer sehr glücklich. Indira sagt: „Ich finde, eine arrangierte Ehe hat viele Vorteile. Die Familien verstehen sich gut, man weiß, dass man zueinander passt und man hat ein Leben lang Zeit, sich besser kennen und noch mehr lieben zu lernen. Hätten wir schon vor unserer Ehe eine Beziehung gehabt, ich hätte es nicht so romantisch gefunden.“ Dann fügt sie hinzu: „Wenn du zu deinen Eltern eine gute Beziehung hast, der kannst du ihnen auch vertrauen, wenn sie dir deinen Ehemann aussuchen. Das ist immerhin die größte Geste elterliche Liebe.“
*Den Eltern vertrauen oder auf das eigene Herz hören?*
Shantala macht die Geschichte von Indira ein wenig Mut. „Ich könnte mir vorstellen, dass ich auch lernen könnte, Rajiv zu lieben, wenn meine Eltern meinen, dass er das Beste für mich ist. Aber im Moment liebe ich Aschisch. Und ich fühle mich viel zu jung zum heiraten.“ Die 18-Jährige seufzt und ist sich nicht sicher: Soll sie auf ihr Herz hören oder ihren Eltern vertrauen? Soll sie mit einer jahrtausend alten Tradition und Kultur brechen? Immerhin hätten ihre Eltern diese Ehe für sie arrangiert. Schließlich sagt sie: „Wenn meine Eltern Aschisch gar nicht kennen, können sie gar nicht wissen, ob er nicht doch besser zu mir passt als Rajiv. Ich denke, ich muss wirklich mit ihnen sprechen. Aber die Angst, dass sie nie wieder mit mir reden, die bleibt.“ Traurig sagt sie dann: „Liebe ist wirklich sehr kompliziert.“
Autorin / Autor: Tina Groll - Stand: 21. Februar 2006