Verlorene Ankerpunkte
Menschen können sich schlechter an Ereignisse erinnern, die in der Corona-Zeit stattgefunden haben. In der Zeitlandschaft fehlen die persönlichen Ankerpunkte.
Wann war das noch mal? Vor meinem Geburtstag, nach der Abifeier oder während der Klassenfahrt? Wenn wir Ereignisse zeitlich einordnen sollen, dann orientieren wir uns häufig an persönlichen Ankerpunkten. Was aber, wenn uns diese Ankerpunkte flöten gehen? Wenn Klassenfahrten nicht stattfinden und feierliche Anlässe nicht wie gewohnt im großen Stil gefeiert werden können? Während der Corona-Pandemie sind uns durch Lockdowns zahlreiche solcher Ankerpunkte verloren gegangen. Und offenbar hat sich das auch auf unser Erinnerungsvermögen ausgewirkt. Das zumindest schlussfolgern Forschende der Universität Aberdeen aus den Ergebnissen einer Studie mit 277 Testpersonen. Die Forschenden hatten sie nach öffentlichkeitswirksamen Ereignissen zwischen 2017 und 2021 gefragt - etwa, wann der Brexit stattgefunden hatte oder die Evergreen im Suezkanal stecken geblieben war. Die Daten zeigten, dass die Menschen sich, wie erwartet, nicht gut an den Zeitpunkt von Ereignissen erinnern, die viele Jahre zurückliegen, und sich besser an jüngere Ereignisse erinnern. Überraschend war hingegen, dass sich die Menschen genauso schlecht an die Zeitlinien von Ereignissen im Jahr 2021 erinnern konnten wie an die von 2017.
Professor Arash Sahraie erklärt: "Wir haben festgestellt, dass sich die Menschen nicht daran erinnern konnten, wann die Ereignisse während der Pandemie stattfanden - tatsächlich war ihre Genauigkeit bei der Erinnerung an den Zeitpunkt dieser Ereignisse genauso schlecht wie bei Ereignissen, die drei oder vier Jahre zuvor stattgefunden hatten."
Um wahrzunehmen, wo wir uns gerade auf einer Zeitachse befinden, orientieren wir uns an bestimmten Ankerpunkten. Das lässt sich durch eine Art "Zeitlandschaft" beschreiben, wie Sahraie erläutert: "Wenn Sie auf einem Hügel stehen, haben Sie eine Landschaft vor sich. Sie können sich umsehen und Ihre Position in Bezug auf einige Ankerpunkte wie berühmte Gebäude und Hügel sehen und dann alle anderen Orte danach beschreiben, wie weit sie von diesen Ankerpunkten entfernt sind." Die berühmten Gebäude und Hügel wären dann in unserem Fall die Geburtstage, Feiern, Beerdigungen oder alle persönlichen Ereignisse, die uns wichtig sind und waren. Fanden sie nicht statt, fehlen diese Orientierungspunkte. Ohne sie verschmelzen in unserer Zeitlandschaft alle Ereignisse miteinander.
Wundert euch also nicht, wenn die Corona-Jahre in eurer Erinnerung so verschwommen sind und ihr wichtige gesellschaftliche und politische Ereignisse dieser Zeit so schwer zeitlich verorten könnt. Es fehlen einfach die sichtbaren Gebäude in eurer Zeitlandschaft.
Die Studie wurde im Fachmagazin PLOS ONE veröffentlicht.
Quelle:
Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung - Stand: 6. Juni 2023