Also, ich wäre zur Polizei gegangen!

Menschen, die Opfer sexueller Belästigung geworden sind, zeigen häufig nicht die Reaktion, die Nicht-Betroffene für angemessen halten

Wenn Menschen, die sexuelle Belästigung erlebt haben, den Vorfall gar nicht oder erst lange Zeit später offiziell „melden“, wird oft gefragt: Warum bist du nicht gleich zur Polizei gegangen? Warum hast du das nicht gemeldet? Warum hast du keine Anzeige erstattet? Solche formellen Reaktionen auf eine sexuelle Belästigung und der Wunsch nach „Gerechtigkeit“ sind das, was Nicht-Betroffene als angemessen empfinden. Und oft werden die Aussagen von Opfern sogar komplett angezweifelt, wenn sie  nicht oder viel zu spät gemacht werden, nach dem Motto „War wahrscheinlich nicht so schlimm“ oder „stimmt vielleicht gar nicht.“

Sicherheit, Selbstkontrolle und soziale Unterstützung

Wissenschaftler:innen der University of Exeter haben jedoch in einer Studie herausgefunden, dass die Bedürfnisse von Opfern sexueller Belästigung ganz andere sind als Nicht-Betroffene es sich vorstellen. Die Wissenschaftler:innen hatten in einer anonymen Online-Umfrage Menschen mit oder ohne Erfahrung sexueller Belästigung befragt. So sollten Opfer sexueller Belästigung angeben, welche Bedürfnisse sie nach dem Vorfall hatten und welche Schritte sie unternahmen, um diese Bedürfnisse zu erfüllen – dabei zeigte sich, dass formelle Aktionen, wie etwa den Vorfall bei der Polizei zu melden, eher hinten auf der Liste standen. Stattdessen waren ihnen Sicherheit, soziale Unterstützung und die Wiedererlangung der Kontrolle über ihr Leben am wichtigsten. Und hierfür unternahmen sie auch alle nötigen Schritte, die ihnen halfen, diese Bedürfnisse zu erfüllen.
Anders die Befragten ohne solche Erfahrungen, die aufgefordert worden waren, sich vorzustellen, was sie in einem solchen Fall tun würden. Bei ihnen standen formelle Aktionen eindeutig im Vordergrund. Sie glaubten, dass sie dann das Bedürfnis hätten, den Vorfall zu melden, zur Anzeige zu bringen etc.

Gerechtigkeit nicht an erster Stelle

Es gibt also offenbar einen deutlichen Unterschied zu dem, was Menschen fühlen und brauchen, die sexuelle Belästigung erlebt haben und dem, was Nicht-Betroffene für eine Vorstellung davon haben, was einem dann wichtig wäre.

Hauptautor Professor Thomas Morton erklärt: "Es gibt die Annahme, dass diejenigen, die sexuelle Belästigung erleben, in erster Linie von ihrem Wunsch nach Gerechtigkeit geleitet werden. Diese Untersuchung zeigt jedoch, dass die Bedürfnisse der Betroffenen weiter gefasst sind, als man annehmen könnte, und auch das Bedürfnis nach Sicherheit, persönlicher Kontrolle und der Wunsch, dass das Leben einfach wieder normal weitergeht. Von allen Bedürfnissen, die die Menschen zum Ausdruck brachten, hatte das Bedürfnis nach Gerechtigkeit nicht die höchste Priorität. Dies könnte erklären, warum die Menschen nicht die Art von formellen Maßnahmen ergreifen, wie z. B. eine Anzeige bei der Polizei, die andere von ihnen erwarten.“

Für die Forschenden zeigt dies, dass Nicht-Betroffene die Bedürfnisse von Betroffenen nur schwer nachvollziehen können. Wir sollten daher niemandem die Glaubwürdigkeit absprechen, nur weil wir uns einbilden, wir hätten so was doch direkt gemeldet, wenn es wirklich so schlimm gewesen wäre. Tatsächlich hat unsere Vorstellung davon, wie wir dann handeln würden, wenig damit zu tun, wie Betroffene handeln.

Die Ergebnisse der Studie wurden im Fachmagazin Psychology of Women Quarterly veröffentlicht.

Quelle:

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Autorin / Autor: Redaktion / Pressemitteilung via eurekalert.org - Stand: 21. Juni 2023