Es ist spät. Die kalten Leuchtziffern auf ihrer Armbanduhr zeigen, dass Mitternacht lange überschritten ist. Doch die Müdigkeit hat sie noch nicht eingeholt. Aus diesem Grund liegt sie auch nicht mehr in ihrem Bett, sondern ist wieder aufgestanden, hat die knarzende Balkontür ihrer kleinen Wohnung geöffnet und steht nun am Geländer gelehnt. Den Blick hinauf. In ein Universum, das sie sich bereits als Kind in den buntesten Farben ausgemalt hat. Sonnen, Sterne, Planeten, Galaxien.
Sie stellt sich einen riesigen Ozean vor. Dunkel wie die Nacht, endlos, grenzenlos. Und alle Himmelskörper schwimmen darin herum. Sie sieht die Sonne – unsere Sonne – vor sich, wie die Leuchtkugel eines Anglerfisches. Böse Zungen würden die Erde und insbesondere die Menschen als den Fisch mit seinen spitzen Zähnen und den hungrigen Augen interpretieren. Tatsächlich hungert es sie danach, der Sonne etwas näher zu kommen. Erst gestern hat sie eine neue Doku über die geplanten Mars-Expeditionen gelesen. Im Raum stand die Idee, eine rein weibliche Crew auf den Weg zu schicken. Wie gerne wäre sie eine davon. Aber so weit ist sie in ihrer Ausbildung noch lange nicht.
Sie hebt die Hand und berührt den Daumen mit ihrem Zeigefinger, sodass sie einen Kreis bilden. Der Kreis ist gerade groß genug, um den Mond darin einzufangen. Demut überkommt sie. Der Mond. So winzig von hier unten – und doch so machtvoll. Ohne Mond keine stabile Erdachse, keine Jahreszeiten, keine Gezeiten und keine Evolution. Ohne ihn könnte sie nicht hier stehen. In einer warmen Sommernacht, die es ihr erlaubt, in ihrem Pyjama barfuß auf dem Balkon zu stehen. Sie senkt die Hand wieder und widmet ihre Aufmerksamkeit den Sternen rund um den Mond. Kleine, weiße Punkte. Lichtjahre entfernt. Und doch haben sie sich alle versammelt, um von ihr gesehen zu werden.
Ein leises Geräusch vom Balkon nebenan lässt sie zusammenzucken. Sie dreht ihren Kopf, beinah in Erwartung ihren Nachbarn zu ertappen, wie er das gleiche tut wie sie. Gefesselt vom wolkenlosen Sternenhimmel, der speziell für sie heute Abend besonders hell leuchtet. Tatsächlich bewegt sich dort etwas. Im Schatten des zusammengeklappten Sonnenschirms kann sie eine Gestalt ausmachen. Doch die Schemen sind zu undeutlich, als dass sie sie identifizieren könnte.
Sie schalt sich selbst töricht. Wer sollte da anderes sein als ihr Nachbar?
„Guten Abend. Was für ein schöner Abend, nicht wahr?“ Vom langen, stummen Beobachten ist ihre Stimme leiser und höher als üblich.
Stille.
Sie gibt sich einen Ruck, versucht es erneut. „Bei dem tollen Anblick kann man sich gar nicht vom Himmel losreißen, nicht wahr? Es ist nicht gut, zu lange zu starren. Man kann sich leicht darin verirren.“
Ihre Augen weiten sich überrascht. Das klingt aber gar nicht nach ihrem Nachbarn.
„Ich verstehe nicht ganz…“, murmelt sie, „gibt es ein schöneres Labyrinth, um sich zu verirren?“
Die Bewegung neben ihr nimmt zu und ihr Gesprächspartner tritt ins Licht. Es ist wirklich nicht ihr Nachbar. Eine milchig weiße Gestalt wird vom Mondlicht beschienen, beinahe nur ein Schemen, als handele es sich um ein Hologramm. Eine Projektion einer fernen Galaxie.
„Nein. Weder ein schöneres noch ein gefährlicheres.“
„Macht die Gefahr es nicht gerade zu einem so spannenden Fall?“ Sie ist nicht verängstigt, nicht einmal sonderlich überrascht über die Wendung der Ereignisse.
„Spannender Fall?“
„Astronauten sind doch nichts anderes als Detektive im Namen der Wissenschaft. Sie versuchen, mit Indizien und Schlussfolgerungen das große Rätsel des Universums zu lösen. Als wäre der Urknall der Auslöser und die Planeten die Verdächtigen“, hört sie sich selbst antworten.
„Ist es dieses Rätsel, das dich Nacht für Nacht hierherbringt?“
„Vielleicht“, sie zuckt die Schultern, „vielleicht schaue ich auch einfach zu viel Star Trek.“
„Star Trek? Was ist das? Eine neue Mission?“
Sie wundert sich nicht über das Unwissen, sondern antwortet bereitwillig: „Eine Fernsehserie. Über Raumschiffe und das Erkunden des Weltalls. Über fremde Galaxien, merkwürdige Planeten und unbekannte Lebensformen.“
„Wie du und ich.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung.
„Warum bist du hier?“ Es ist das erste Mal, dass sie das Erscheinen der Figur hinterfragt.
„Ist das nicht eindeutig? Um mich mit dir zu unterhalten. Macht man das nicht hier auf der Erde so?“ Die Stimme schwankt in ihrer Lautstärke, als wäre ihr Sprecher mal näher, mal ferner. Wie ein Pendel, das einmal zu ihr schwingt, um sich dann zu entfernen, ehe es wieder zurückkommt.
„Doch. Das stimmt schon. Worüber möchtest du dich unterhalten?“
„Wir unterhalten uns doch bereits. Über das Weltall, Ort der Träume und Sehnsüchte.“
„Wenn du lange ins All blickst, blickt das All auch in dich hinein.“
„Du hast es erfasst. Deshalb bin ich hier.“
Sie rümpft die Nase. „Bist du eine Warnung? Kommen wir Menschen euch zu nahe?“
Das Wesen lacht. Es klingt blechern, aber aufrichtig. „Wovon träumst du nachts? Nein, ich bin neugierig. Genauso wie du auch. Kannst du es mir vorwerfen?“
„Denkst du auch über uns nach? So wie wir über euch spekulieren?“
„Natürlich. Neugier ist eine der Grundpfeiler der Wissenschaft. Es ist schön, zu sehen, dass es anderen ähnlich ergeht.“
„Wir sind uns ähnlich? Irgendwie ist das ein schönes Gefühl.“
„Solange wir beide neugierig bleiben, werden wir uns immer ähnlich sein. Vergiss das nicht. Und vergiss das nicht.“ Das Wesen deutet hinauf zu den Sternen. Plötzlich klackert etwas neben ihr auf die Fliesen des Balkons. Ein kleiner Kiesel, vollkommen rund und makellos weiß. Sie hebt ihn auf. Als sie sich wieder aufrichtet, ist sie allein, doch ihr Balkon scheint plötzlich zu vibrieren.
Sie schreit. Dann springt sie auf. Orientierungslosigkeit überkommt sie. Blind wie ein Hundewelpe schaut sie sich um. Sie ist in ihrem Bett… und auf ihrem Bett liegt ihr vibrierendes Handy. Es ist ihr Wecker.
„Also war alles nur ein Traum“, stellt sie ernüchtert fest. Während sie sich für den Tag fertig macht, sieht sie nicht den Kieselstein, makellos weiß und vollkommen rund, der unter ihr Bett gefallen ist.