Nichts Geringeres als das Universum steht zwischen dir und mir, denke ich, als du den Kopf in meine Richtung drehst, mir meinen Kopf verdrehst. Sommersprosse für Sommersprosse klettere ich bis zu deinen Augen, die sich fragen, ob man im Weltall auch so sehnsüchtig in die Sterne blickt oder ob das da oben völlig trivial sein wird, weil es da ja sonst kaum was zu sehen gibt. Ich sehe die Milchstraße auf deinem Nasenrücken und die Sonnenstürme auf deiner Kopfhaut, Wirbel für Wirbel. Ich traue mich nicht, die Entfernung von meinen Lippen zu deinen zu messen. Zu unendlich.
Ich richte mich auf und renke mir den gepflasterten Boden aus dem Rücken. Du schaust zu mir hoch, was ich denn da täte, beobachtest, wie ich aufstehe und auf das Teleskop zugehe. Gänsehaut benetzt meine Unterarme, als meine Hände das Rohr umfassen. Kaum Lichtverschmutzung, der Himmel schwarz wie Pech und darauf etliche, etliche Sommersprossen. Ja, du bist ein Kind dieses Universums. Ich werfe einen Blick durch das Okular und erinnere mich an das Warum. Altair, Deneb und Wega. Glitzernd. Wie die U-Bahnstation an der Museumsinsel, nur in Echt. Echter. Gleißend helle Tupfen inmitten des Nichts, des Nichts, wovon wir gar nichts wissen. Was, wenn Nichts nicht Nichts ist, sondern ALLes?
„Das Weltall ist so unendlich. So unendlich weit weg“, wispere ich und merke, dass der Sekt sein Übriges tut. „Ich will dich nicht an die Unendlichkeit verlieren.“
Du seufzt, weil du weißt, dass ich mir das anders gedacht habe. Dass ich gedacht habe, du würdest für immer bei mir am Boden bleiben. Was ich gedacht habe, bis du mir den Boden unter den Füßen weggezogen hast. Du hast den Sekt mitgebracht, ohne zu wissen, dass ich das hier nicht feiern würde, und ich habe getrunken. Hättest du dich beworben, wenn du es gewusst hättest?
„Du verlierst mich nicht an die Unendlichkeit“, sagst du und löse meinen Blick vom Nachthimmel. Von deinem zukünftigen Zuhause. „Ich bin doch nicht weg. Dinge verschwinden nicht einfach, auch nicht im Universum. Und es sind doch nur 400 Kilometer.“
„400 Kilometer. Wenn du nach Stuttgart oder so gehst, dann sind es nur 400 Kilometer. Du bist 400 Kilometer in der Luft.“
„Ja, aber… Das war es doch immer. Das war doch immer der Traum, den wir hatten. Das Weltall.“ Du wagst dich kaum, mir in die Augen zu blicken, und vielleicht realisierst du, dass du das hier nicht mehr ungeschehen machen kannst. Die Vorstellung von mir, wie es nichts mit mir macht, dass du in den nächsten vier Jahren analysiert, trainiert, zentrifugiert wirst, nur um dich dann 400 Kilometer in die Luft schießen zu lassen. Ein Paralleluniversum, in dem ich mich freue, dass du den Ausbildungsplatz bekommen hast, der für mich in deinem Leben keine Nische vorsieht. ALLes ist alles, was du willst, und alles, was ich will, bist du.
„Unsere Freundschaft übersteht das“, behauptest du. Ich weiß, dass sie es längst nicht überstanden hat. Den Durchbruch in meine Atmosphäre hat sie nicht überstanden. Der Brief in meiner Hosentasche fühlt sich schwer an. Ich weiß genau, dass ich ihn dir heute nicht geben werde und morgen auch nicht. Vielleicht bin ich auch froh, dass du mir mit deiner Neuigkeit zuvorgekommen bist. Vielleicht habe ich mir damit eine zweite Enttäuschung erspart. Unendliche Unwahrscheinlichkeit, dass das Universum zwischen dir und mir Raum gegeben hätte für ein Uns. Ich habe meine Gefühle genommen und sie in den Briefumschlag gestopft, den Klebestreifen angeleckt und alles verklebt. Er wird für immer verklebt bleiben.
„Es ist kalt hier oben geworden“, sage ich.
„Ja“, sagst du, „kälter als vorhin.“
Solange Welten zwischen uns stehen, kann ich eigentlich nicht genug Lichtjahre zwischen uns bringen. Die Sterne über uns funkeln mich verräterisch an.