„Guten Tag, Herr Martin.“
Er sitzt draußen auf seinem kleinen Balkon in einem kleinen Holzstuhl. Auf dem Schoß eine rote Stoffdecke.
„Ich bin Ida, Ida Stern“, stelle ich mich vor. Er reicht mir die zittrige Hand.
„Stern?“ Wiederholt er. „Wenn ich bloß an Zufälle glauben würde, hätte ich wohl danach gefragt, ob Ihr Name und Ihre Berufung zufällig in Zusammenhang stehen würden?“ Neben den dunklen Augen bilden sich kleine Lachfältchen zu den Markern seines hohen Alters.
„Wohlmöglich“, murmle ich lächelnd.
„Sie sind also Astrophysikerin?“, fragt er interessiert. Ich nicke. Er zieht die buschige Augenbraue skeptisch hoch und mustert mich. „Und Sie forschen an?“
„Ich interessiere mich für Gravitationsforschung. Singularitäten. Schwarze Löcher.“
„Die Löcher und Ränder von Raum und Zeit“, stellt er fest und blickt hinauf in den Himmel.
„Sie wissen, weshalb ich heute hier bin?“
„Weil Sie wissen wollen, wie es ist, wenn man an den Rand der Zeit kommt, nehme ich an.“
Er schmunzelt kurz. „Ich spreche darüber nur sehr ungern“, beginnt er, da falle ich ihm schon ins Wort: „Umso dankbarer bin ich Ihnen für das Interview.“
„Es ist schwierig, einen Anfang meiner Geschichte zu finden. Besonders nach all dem, was mir widerfahren ist. Vielleicht fange ich genau da an, wo die Zeit für mich nicht mehr nach ihren gängigen Gesetzten funktionierte. Ich war noch sehr jung. Gerade einmal 33, als ich in die Rakete V3 stieg. Zur damaligen Zeit, die wohl stärkste gebaute Rakete.“
Er verstummt kurz und zeigt hinauf zum Himmel: „Haben Sie die geringste Ahnung, wie es dort oben ist?“
„Nein“, antworte ich rasch. Er zieht den Finger wieder runter und legt ihn vor die Lippen, „Es ist still. Es ist nicht einmal still. Es ist, als hätte es Geräusche noch nie gegeben. Man verspürt das Bedürfnis, in diese unendliche Leere zu schreien.“
„Ich habe damals auf der Alpha-Grey gearbeitet. Unsere Mission war, die Strahlung ferner Galaxien zu überprüfen. Auf ferne Galaxien sind wir nie gestoßen, aber auf etwas anderes.“
„Was ist passiert?“
„Ich habe den Einzelauftrag bekommen, mit der Mini-10 kosmische Strahlung einer vermeintlichen Galaxie in der Nähe zu überprüfen. Doch als ich sie erreichte, war es bereits zu spät. Ich wurde in etwas hineingezogen, das keine Galaxie war. Ich hatte eine Barriere überquert. Eine Barriere zu einem schwarzen, leeren Nichts. Mein Herz schlug erst schneller, als es für den menschlichen Körper möglich ist und verlangsamte auf einmal, als würde es jeden Moment aufhören zu schlagen. Und es war sonderbar ruhig. Mir war, als würden unendlich viele Geräusche auf mich einprallen, die vereint in einem einzigen zarten Ton verklungen. Jede meiner Bewegungen war entweder schneller oder langsamer als ich sie ursprünglich ausführen wollte und dem physiologischen Aufbau eines Menschen möglich. Da war etwas Grelles. Ein Licht? Eine helle Masse? Das Herz eines Wesens, dass ich mir in meiner Fantasie nie hätte ausmalen können. Ich stieg aus und folgte dem Wesen, das eine Form annahm, um doch keine hatte. Nur ein Herz.“
„Und dann?“ Frage ich mitgerissen.
„Es drehte an eine Kurbel. Es drehte schneller und schneller und aus seinem Herzen bohrte ein Lichtstrahl seinen Weg durch das dunkle Nichts. Eine Bildfläche entstand und ein Film lief darauf. Ein Film über mein Leben.“
Das muss ich erstmal schlucken. Meine naive Vorstellungskraft gelangt an die Mauer der Realität und des Rationalismus.
„Ein Film? Ein Film, wie von einer Rolle? Ein analoger Film?“
„Vielleicht so etwas Ähnliches. Aber so können Sie es sich vorstellen.“ Es pausiert kurz und blickt wieder eindringlich zu mir.
„Was, wenn ich Ihnen sage, dass unser Leben wie dieser analoge Film funktioniert. Es ist eine Schleife aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Alles verläuft parallel und ist bereits vorgeschrieben. Das, was wir als Gegenwart wahrnehmen, ist bloß das, was das Wesen beleuchtet. Ich habe in meine Zukunft geblickt.“
„Und was haben Sie gesehen?“
„Uns beide“, sagt er und fügt hinzu: „Unser Gespräch. Alles bis hier hin. Meinen Rückflug. Meine verdutzte Crew, die nicht verstand, wo ich gewesen war. Mein Antreffen auf Verständnislosigkeit auf der Erde. Die Zweifel an mir selbst. Unzählige Meetings. Eine Pressekonferenz, in der ich alles richtigstellen sollte. Und ich, der in seiner Naivität alle Erfahrungen dennoch teilte. Es folgten richtungslose Gespräche mit der NASA und den Geheimdiensten, bis ich schließlich eingewiesen wurde und nun sitzen wir hier.
Was hätten Sie in dieser Lage getan?“
Ich zucke mit den Schultern.
„Ich entschied einzugreifen. Also riss ich den Tag der Pressekonferenz heraus und heftete die Enden wieder zusammen. Ich kehrte zurück. Alles trat genauso ein, wie ich es gesehen hatte. Bis zum Tag der Pressekonferenz, dachte ich mir. Und als ich an diesem Tag aufwachte, in dem Glauben, er wäre nie eingetreten, sprachen mich dennoch unzählige Leute an diesem Tag auf die vergangene Pressekonferenz an.“
„Also sind Sie in der Zeit gereist?“
„Nein. Das bin ich nicht. Ich habe sie mir genommen.“ Er hält kurz inne.
„In dem Moment, in dem ich mir ein Stück Zukunft nahm, nahm ich mir auch ein Stück Gegenwart. Eine Gegenwart, die aus meiner Sicht, nie passiert ist und dennoch in der Zukunft stattgefunden hat.“
„Das ist unmöglich“, antworte ich fassungslos. „Ja“, lacht er kurz auf. „Das haben sie alle gesagt. Einige meiner Kollegen wollten mir am Ende nicht einmal mehr glauben, dass ich jemals in die Mini-10 gestiegen bin. Aber wissen Sie, irgendwann wurde es mir dann klar.
Erinnern Sie sich noch an meine Worte von vorhin? Unser Leben ist vorbestimmt. Vergangenes und Zukünftiges vorgeschrieben. Ich habe mir ein Stück genommen, also musste die fehlende Zeit ersetzt werden. Aber alles ist bereits festgeschrieben und kann nicht mehr geändert werden. Es gab nur eine Möglichkeit. Die Wesen verlängerten meinen Flug zu ihnen. Dadurch, gaben sie mir Zeit, an die nur ich mich erinnern konnte und sonst niemand. Die Zeit, die ich mir gestohlen hatte.“
„Und dadurch schließt sich die Schleife und es ist, als sei nie etwas gewesen.“
Ich hatte vieles über ihn und seine Geschichte gehört und doch war nichts vergleichbar gewesen mit dem, was er mir gerade erzählt hatte.
Ich bedanke mich für das Gespräch. Gefühllos, als hätte seine fesselnde Geschichte mich ihrer beraubt, trete ich aus seinem Raum in den nackten Flur des Heims. Seine Therapeutin kommt mir entgegen. „Er ist ein kranker Mann“, spricht sie ihr Mitleid aus und ich sage bloß achselzuckend: „Aber es hat wohl doch auch etwas Beruhigendes.“
„Beruhigendes?“
Ich nicke.
„Zu wissen, dass alles irgendwie vorbestimmt ist in unserem Leben.“