„Mein Sohn ist furchtbar wütend auf mich. Ich würde ihm so gerne persönlich erklären, warum er nicht die ganze Nacht unterwegs sein darf. Zumindest noch nicht. Damit er es versteht. Aber aus so einer Distanz ist das echt schwierig.“
Auch aus 400 Kilometern Entfernung, von der Erde aus, nur über einen Bildschirm, sah Esther deutlich die Sorge im Gesicht ihrer Patientin. Die Haare der Frau schwebten in der Schwerelosigkeit der Internationalen Raumstation. Blonde Locken umkreisten ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Sie sah aus wie ein Engel oder eine Art Superheldin. Esther hatte genug Berufserfahrung, um zu wissen, dass auch Astronautinnen und Astronauten am Ende des Tages bloß Menschen waren. Menschen mit menschlich-banalen Sorgen – auch in einer lebensfeindlichen Umgebung, in der alles ungewohnt war, auf einer fordernden Mission. Sie würde ihrer Patientin wohl erklären müssen, dass ihr Sohn nun einmal im Teenager-Alter war und sowieso wütend auf sie wäre, auch, wenn sie ihm gegenübersäße. Es rührte Esther, wie oft irdische Dinge wie Befürchtungen rund um die eigenen Kinder bei den zweiwöchentlichen Pflichtterminen thematisiert wurden. Das Mutter- und Vatersein endete für niemanden mit dem Einstieg in die Rakete. Das war es, was Esther am meisten faszinierte an ihrer Arbeit als Weltraum-Psychologin. Egal, wohin es die Menschheit in Zukunft auch verschlagen würde, Menschen würden immer Menschen bleiben.
Als Esther vier Jahre alt war, stellte sie sich zum ersten Mal die Frage: „Was möchte ich später einmal werden?“
Technisch gesehen stellte sie sich nicht selbst diese Frage – vielmehr wurde sie drangsaliert von dem glitzernden Freundebuch einer Kindergartenkollegin. Alle anderen schienen ihren Weg bereits zu kennen. Feuerwehrfrau, Mathematiker, Tänzerin oder Basketball-Profi las man da, zwischen all den Stickern, die Zukunftsaussichten der Gleichaltrigen gar strahlender als die funkelnden Einbände der Bücher. Doch während die anderen in der Kindergartengruppe designten, rechneten und trainierten, rief Esther nur in Ventilatoren hinein und staunte darüber, wie roboterartig ihre Stimme klang. Irgendwie konnte sie einfach nicht Schritt halten mit den anderen.
Als Esther sechs Jahre alt war, weigerte sie sich, ihre Unterwäsche öfters als zweimal pro Woche zu wechseln. Sie hatte gerade erst die Mondphasen entdeckt (auch, wenn sie diese noch nicht als solche benennen konnte) und entdeckte im Nachthimmel beinahe täglich neue, außergewöhnliche Sternbilder. Ihr Fokus lag nun auf dem Erforschen der Welt um sie herum, und Nebensächlichkeiten wie übertriebene körperliche Hygiene kosteten unnötig Energie. Ihre Mutter verzweifelte daran. Esthers Großvater sagte aber: „Aus dir, mein kleiner Stern, wird mal eine tolle Astronautin.“
Von diesem Tag an konnte Esther gar nicht genug Freundebücher in die Hand bekommen. Stolz ließ sie darin vermerken, dass sie einmal Astronautin werden würde.
Alles, was mit dem Weltall und dem Alltag als Astronautin zu tun hatte, verschlang Esther mit größtem Interesse. Die Vorstellung, von der Internationalen Raumstation aus unglaubliche 16 Sonnenaufgänge am Tag zu beobachten, faszinierte sie. Esther träumte davon, auch eines Tages die Welt ohne Grenzen zu sehen. Tagsüber nur die blauen Meere und nachts die funkelnden Lichter. Sie sah sich selbst in einem Beruf, in dem sie Antworten finden und im Gegenzug dazu mehr Fragen stellen konnte, als jemals jemand zu beantworten wüsste. Ob sie eines Tages wirklich nach oben geschickt werden würde, das war natürlich Glückssache. Es gab nur wenige Stellen für Astronautinnen und Astronauten, alle paar Jahre einmal, wenn es gut lief. Sie tat, was sie konnte, um ihre Chancen zu steigern: Sie zeigte vollen Einsatz im Englischunterricht und bei den Naturwissenschaften und lehnte sogar die Zigarette von dem coolsten Typen auf der Garagenparty ab, damals in der 9. Klasse, um ja auf gar keinen Fall eine Nikotinsucht zu entwickeln. Doch sie legte sich auch einen Plan B zurecht, der sie wirklich erfüllte. Esther konzentrierte sich auf die eine Sache, die sie fast genau so sehr interessierte wie der unendliche Weltraum: der Gefühlskosmos des Menschen.
Oh, und was gab es alles zu entdecken, sogar speziell im Kontext der Weltraumforschung! Wie gehen Menschen mit dem Stress einer Weltraumexpedition um? Und mit der Isolation? Wie funktionieren Sie auf engstem Raum, über Monate hinweg? Wie kommen Sie damit zurecht, dass Tränen in der Schwerelosigkeit nicht fallen können, sondern einfach als deprimierender Blubberball an den Augen kleben bleiben? Und, vor allem: Wie kann man Menschen in solchen Extremsituationen helfen, und was lernen wir für die noch ferneren Reisen der Zukunft?
Esther blühte über die Jahre hinweg in ihren Studien auf. Als sie den Job als Weltraumpsychologin bekam, schwebte sie im siebten Himmel. Jahrelang fand sie ihr größtes Glück in dieser Tätigkeit. All ihre Träume waren wahr geworden. Fast.
Beim Scrollen durch die Tagesnachrichten blieb Esthers Blick auf einer Headline hängen: „Astronaut:innen gesucht: ESA eröffnet neue Bewerbungsrunde.“
Autorin / Autor: Marlene H.