Das Signal

Wettbewerbsbeitrag von Fabio Geisser, 23 Jahre

In einer weit, weit entfernten Zukunft umkreist die kleine Weltraumsonde Epsilon einen einsamen roten Zwerg irgendwo in der Galaxie. Epsilon durfte schon unzählige Bekanntschaften mit Sternen unterschiedlichster Art machen, doch dieser ist für sie etwas ganz Besonderes. Anders als die gelben Zwerge, die laut, unruhig und stets in Bewegung sind, oder die weißen Zwerge, die ihr gegenüber gleichgültig und kalt sind, oder die roten Riesen, die sich schwerfällig und fett immer mehr und mehr aufblähen, beruhigt seine sanfte Art Epsilon. Mit jeder Umrundung hat sie das Gefühl, ihn umarmen zu dürfen, um seine wohlwollende Wärme zu fühlen.
Jetzt, da ihr geliebter Stern in eine inaktive Phase fällt, macht auch Epsilon eine Pause mit ihren unermüdlichen Messungen seiner Oberflächentemperatur, Magnetfelder, Konvektionsströmen und die von ihm verursachten Gravitationswellen. Sie beschränkt sich ausschließlich auf die visuelle Beobachtung mithilfe ihrer Bordkamera und bestaunt den Anblick ihres Lieblings aus der Ferne.
Es sind 145'723'909 Jahre vergangen, seit sie das letzte Mal eine Pause eingelegt hat. In dieser Zeit hat sie unermessliche Datenmengen über ihren Stern gesammelt und kennt jedes noch so kleine Detail über seinen Aufbau und seine Struktur. Aber nun gibt es nichts zu messen oder zu analysieren, und sie fällt ebenfalls in einen tiefen Schlummer, während sie geduldig auf das Wiedererwachen ihres Lieblings wartet. Mit ihrem Energieverbrach auf das Geringste reduziert, zieht Epsilon ihre weiten Bahnen um den roten Stern, wie sie es schon unzählige Male zuvor getan hat.
Während Millionen Jahre vergehen, ohne dass der rote Zwerg größere Aktivitäten aufweist, durchdringt ein kraftvolles und rätselhaftes Signal den Weltraum und erreicht die kleine Sonde. Ihre abrupt vibrierenden Schaltkreise reißen Epsilon aus dem Schlummer und sie ist erschreckt und fasziniert zugleich. Sofort aktiviert sie ihre Sensoren und erforscht dieses ungewöhnliche Ereignis, denn sie hat noch nie eine solche Menge an Energie gemessen. Sie erkennt ein Muster in den Frequenzen und Amplituden des Signals, ein Muster von unglaublicher Präzision und Schönheit, ohne die kleinste Unregelmäßigkeit oder Abweichung. Dieses Signal erfüllt Epsilon mit einer inneren Harmonie, wie sie es noch nie erfahren durfte. Sie hört zu. Dabei erfasst sie kaum Daten, führt keine Analysen durch, sondern hört einfach nur zu. Stunden vergehen, in denen für Epsilon weder Raum noch Zeit existieren, sie weder galaktische Nebel noch Galaxien wahrnimmt, und auch ihr geliebter roter Stern geht in den Datenströmen unter.
Als die letzten Töne der Melodie verklingen und sich das Signal in der Unendlichkeit des Universums weiter ausbreitet, eröffnet sich in Epsilon eine Leere. Dort, wo das Signal die Schaltkreise am heftigsten zum Schwingen brachte, breiten sich nun Fragen aus. Fragen, die sich Epsilon noch nie gestellt hat, noch nie stellen durfte. Doch auf diese Fragen findet sie keine Antworten. Nicht einmal die unermessliche Größe des Weltraums vermag diese zu beantworten.
Was ist meine Bestimmung?
Eine kurze Auswertung verrät ihr, dass ihre Datenspeicher schon seit unbekannter Zeit voll sind, und Daten und Erinnerungen schon unzählige Male überschrieben worden sind. Sie durchforstet ihre Datenbank mit Milliarden und Abermilliarden von Zeilen, findet aber keinen Eintrag einer Mission. Aufzeichnungen ihrer Navigationsinstrumente reichen bloß etwa zehn Millionen Jahre zurück, bis diese überschrieben wurden.
Woher komme ich?
Epsilon weiß, dass die einzige Chance, eine Antwort darauf zu finden, im Signal liegt. Dies bedeutet eine Reise in unbekanntes Territorium, schlimmer noch, eine Reise ohne ihren geliebten Stern. Würde sie überhaupt zurückkehren, noch bevor ihr Stern vollkommen erlischt oder explodiert? Würde sie seine Wärme jemals wieder spüren?
Nein, sie würde niemals von der Seite ihres Sternes weichen. Auch die unzähligen Simulationsläufe bringen keine nützlichen Daten hervor, wie lange solch eine Expedition dauern könnte.
Nach mehreren tausend Jahren Rechnen, Simulieren und Analysieren, speichert Epsilon dieses Ereignis unter der Kategorie «Anomalie» ab und fällt abermals in ihren Schlummer. Doch sie bleibt unruhig. Erfolglos versucht sie, Datensätze von ihrem Stern abzurufen, die Daten vom Signal schieben sich stets ungewollt dazwischen. Sie sieht sich gezwungen, ihre Datenspeicher vorübergehend von ihren Schaltkreisen abzukoppeln. Doch Epsilon meint, die Melodie des Signals immer noch in ihren Sensoren zu hören. Epsilon kommt der Weltraum plötzlich fremd vor. Was, wenn ihre Welt noch weiter geht, als nur die Umlaufbahn ihres Sterns? Das ist meine Welt.
Willkürlich richtet sie die Bordkamera auf sich selbst. Epsilon weiß nicht, was sie erwarten soll. Auf dem Videofeed sieht sie eine zylindrische Form aus Metall, die mit unzähligen Antennen, Parabolantennen und Geräten unterschiedlichster Formen gespickt ist. Zwei große Solarpaneele dominieren auf beiden Seiten, in welchen ihr roter Zwerg perfekt gespiegelt wird. Auf der Hülle entdeckt Epsilon einen schlichten schwarzen Schriftzug, die von zahlreichen Mikrometeoriten in Mitleidenschaft gezogen wurde, aber immer noch lesbar ist: «Epsilon-IXE 56.001.98»
Wer bin ich?
Sie sendet eine Nachricht in alle Richtungen mit ebendieser wunderschönen Melodie, die sie erhalten hat. Es vergehen fast eine Million Jahre als sie abermals die Melodie mit ihren Sensoren erfasst, kurz und intensiv. Der Ursprung kann also nicht weiter als fünfhundert Lichtjahre entfernt liegen.
Bevor sie aufbricht, umkreist sie den roten Zwerg ein letztes Mal. Seit sie das Signal empfangen hat, liegt seine Aktivität auf einem Minimum und keine größeren Sonnenwinde fanden mehr statt. Die Oberflächentemperatur liegen bei einem Allzeittief. Ich werde wiederkehren, ich verspreche es dir.
Damit zündet Epsilon ihre seit Ewigkeiten nicht mehr benutzten Triebwerke und verlässt seine Umlaufbahn und driftet in den pechschwarzen Weltraum mit einem Gefühl, dass sie noch nie erlebt hat – Neugier.

Alle Infos

Die Über All Lesung

Lasst euch von sieben der Preisträger:innen des Wettbewerbs Über All in ferne Welten entführen

Die Über All-Preisträger:innen

Vielen Dank an alle Teilnehmenden für diese spannenden Exkursionen ins All und herzlichen Glückwunsch den Preisträger:innen

Die Über All Jury

Teilnahmebedingungen

Preise - Das gibt es zu gewinnen!

Schirmherrin Dr. Suzanna Randall

EINSENDUNGEN

Autorin / Autor: Fabio Geisser