„Lily, ihre Schwester ist zurück.“ Die alte Frau hob den Kopf und sah von den Blumen, welche sie gerade düngte, zu der jungen Mitarbeiterin. Ihr Blick streifte flüchtig den Abendhimmel, an dem die ersten Sterne sichtbar wurden, bevor sie sich wieder ihren Blumen zuwandte.
Als ihre Zwillingsschwester Yoko sie verließ, waren sie etwa so alt wie diese junge Mitarbeiterin gewesen. Seither hatte Lily nichts mehr von ihrer Schwester gehört. Wie auch, wenn Yoko sich nahe Lichtgeschwindigkeit durch den Kosmos bewegte? Doch auch wenn Lily gekonnt hätte, sie hatte ihrer Schwester nichts zu sagen. Einer Bande von Taugenichtsen und realitätsfernen Träumern hatte diese sich angeschlossen, fand sie.
Im Hintergrund spielte ein Flugradio, welches stets seinem Besitzer folgt, die Saklibahr Symphonie. Das Stück beruhte auf dem Geräusch der Monde von Saklibahr, wenn diese durch die dichte Ammoniakatmosphäre streiften. Eine Weltraumexpedition hatte diese schönen und unvertrauten Töne mitgebracht. Kurz nach der Aufnahme waren die Monde auf ihren instabilen Bahnen der Schwerkraft Saklibahrs unterlegen und hatten den Planeten bei ihren Absturz pulverisiert.
Nachdem die Menschheit die interstellare Raumfahrt erschlossen hatte, waren es zuerst superreiche Individuen, welche sich auf Reisen in die unbekannten Weiten begeben hatten. Bald jedoch wurden allerhand Komplikationen ersichtlich. Durch die Beschleunigung auf nahe Lichtgeschwindigkeit verging die Zeit für die Weltallreisenden wesentlich langsamer als für die Menschen, die auf der Erde zurückblieben. Nach der Heimkehr hatten sich Rechnungen angehäuft, waren Grundstücke verkauft worden, Urheberrechte verfallen und ihre Familien und Freunde waren alt geworden. Die erste Euphorie für Weltallreisen kam zum Erliegen. Es wurden strenge Anforderungen eingerichtet, die Weltraumreisende vor Antritt ihres Fluges erfüllen mussten, beispielsweise der Ausgleich aller bestehenden und innerhalb ihres Lebens anfallenden Schulden. Einzelne Firmen waren nach wie vor an den verheißungsvollen Aussicht auf Ressourcen interessiert, die es in den Tiefen des Weltraums zu entdecken gab, doch die Rekrutierung von Personen, die gewillt waren, ihr persönliches Umfeld und Eigentum hinter sich zu lassen, war schwierig. Fündig wurden sie bei Außenseitern der Gesellschaft, Einzelgängerinnen und Menschen, die nichts mehr zu verlieren hatten, sowie vereinzelt bei leidenschaftlichen Forschenden. Bis es vor einigen Jahren gelang, Catentan, ein ultra-stabiles, ultra-leichtes Material, von einer Weltraumreise mitzubringen. Der Leiter der Expedition, Sam Alexyth, ein ehemaliger Schwerverbrecher, erlangte innerhalb kurzer Zeit Weltberühmtheit und großen Reichtum. Er zog in eine der Luxusvillen, die im Inneren der Berge um St. Moritz entstanden, welche ausgehöhlt und mithilfe des Catentans stabilisiert wurden. Dies erlaubte der Stadt, aus dem engen Bergtal zu expandieren und zum weltgrößten Vergnügungspark für die reichen 1% zu werden. Dieser Erfolg löste eine regelrechte Goldgräberstimmung aus und Weltraumreisen erlebten eine neue Welle des Enthusiasmus. Die Zahl der Freiwilligen überstieg regelmäßig die Kapazitäten. Nach wie vor jedoch kamen Weltraumreisende zum Großteil aus prekären Schichten und selten waren ihre Expeditionen von Erfolg gekrönt, geschweige in dem Ausmaß wie die von Sam.
53 Jahre war es her, dass Lily und Yoko das letzte Mal gemeinsam zu den Sternen geschaut hatten. „Auch ich werde ins Weltall reisen“, sagte Yoko damals. Lily war bei dem Gedanken an die finsteren Unendlichkeiten, die hinter dem Sonnensystem lauerten, erschaudert. Und dann verließ ihre Schwester sie. 53 Jahre war es her, dass Lily zu den Sternen geschaut hatte.
Mit einem Seufzer erhob Lily sich und ließ ihren Blick durch den Garten schweifen. Dieser Garten, der ihr und vielen anderen täglich so viel Freude bereitete. Die Anfänge des Gartens waren schwer gewesen. Der vorangeschrittene Klimawandel und heftige Ausbau von Monokulturen, um die steigende Weltbevölkerung zu ernähren, hatten wenige der außergewöhnlichen Pflanzen übriggelassen, die nun hier gediehen. Doch Lily hatte gekämpft. Mit einer Gruppe von Freiwilligen hatte sie die letzten verbliebenen Wildnisse der Erde durchkämmt und einige Exemplare retten können. Ironischerweise waren es gerade Weltallreisen gewesen, die Lilys Garten retteten. Durch die zahlreichen, erfolglosen Weltraumreisen war den Menschen bewusst geworden, wie einzigartig und kostbar und wie zerbrechlich die Erde war. Renaturierungsmaßnahmen, Schutzgebiete, nachhaltige Bewirtschaftung, all das erhielt überwältigenden Zuspruch der Bevölkerung und in Folge dessen auch politische und wirtschaftliche Unterstützung. Inzwischen war Lilys Garten einer von vielen blühenden Oasen, in denen die Menschen Ruhe und Inspiration fanden, sich begegneten, bildeten und die Schönheit des Lebens feierten.
Die umliegenden Hügel hatten die Sonne verschluckt und Dunkelheit überwog gegenüber dem Licht, als Lily Schritte neben sich hörte und Yoko den Garten betrat. Ihr eigenes Gesicht mit Ende 20 blickte ihr entgegen, nur mit weniger Ungestüm und Idealismus. „Schau nach oben, es fängt gleich an!“, rief Yoko ihr aufgeregt zu, in der Hand ein hochauflösendes Taschenteleskop. Eine Welle von Wut überrollte Lily, die Einsamkeit und Verrat von damals wieder frisch im Gedächtnis. Doch was sie letztendlich herausbrachte waren keine Vorwürfe. „Die Sterne haben mir schon immer Angst gemacht.“, sagte sie. Yoko sah sie an, Schmerz und Verständnis in ihrem Blick. „Mir auch“, sagte sie. Dann drückte sie Lily sanft das Teleskop in die Hand, nahm ein zweites aus ihrer Jackentasche und richtete es auf die Position von Saklibahr. Langsam tat Lily es ihr gleich und was sie sah, konnte sie kaum glauben. Das, was von Saklibahr übrig war und sich langsam vor den Stern seines Systems schob und von ihm erleuchtet wurde, war keine unförmige Staubwolke mehr. Stattdessen erstrahle eine Blume mit einem Durchmesser von mehreren tausend Kilometern im Weltall.
Autorin / Autor: Dagmar C.