„Der Himmel ist ein Friedhof.“ Ihr Finger verliert sich in der Schwärze der Nacht. „Alle Sterne, die wir sehen, sind verglüht, ihr Licht bereits tot.“ Es klingt traurig, aber irgendwie auch schön. Verstörte Faszination. Ich glaube nicht, dass ich es verstehe. Die Unendlichkeit des Himmels scheint mich zu verschlingen, nur sie hält mich. Ihre große Hand auf meiner. Die leuchtenden Punkte bilden ein Muster wie Salzkörner in einer schwarzen Suppe. Nein, Salzkristalle. Ich will den Anblick in mir aufsaugen und gleichzeitig den Atem anhalten, damit er nicht verweht. Aber die Neugier ist zu stark. „Wie viele sind es?“ Sie drückt meine Hand fester. „6146.“
„Niemand kann die Sterne zählen.“ Er zieht seine Rotznase hoch und ich würde ihm am liebsten den Legostein an den Kopf werfen. „Meine Mama kann es“, antworte ich stattdessen voller Überzeugung. „Und sie hat gesagt, dass es 6146 sind.“ Seine Augen haben nichts mit Sternen gemein. Schwarze Löcher in brauner Bratensoße. „Dann lügt deine Mama.“ Ich hasse Bratensoße. „Du lügst!“ Mein Gesicht brennt, seines auch. Unsere Flammen entfachen ein Feuer, das heißer ist als die Sterne. „Dann geh‘ doch zu deiner Mami und heul‘!“ Aber Mama hat gesagt, dass nichts heißer ist es als die Sterne. Ich balle meine Hand zur Faust, bevor die Supernova explodieren kann. Dem werde ich schon beweisen, wer hier lügt.
Die Stimmen der anderen hallen in meinem Kopf nach, als sie mich findet. Wie damals nimmt sie meine Hände, drückt sie, hält mich, mein Raumschiff im haltlosen All. Nur sind ihre Hände nun nicht mehr so groß, meine nicht mehr so klein. Diesmal ist kein Himmel über uns, der ein schützendes Zelt bietet, aber ich brauche ihn nicht. Das Universum liegt in Mamas Augen. Gespiegelt in meinen Tränen. Meinen Salzkristallen. „Was ist passiert?“ Wie ihr Finger damals verliert sich meiner in der Schwärze der Nacht, die ich gemalt habe. Nichts als ein Bild. Du wirst niemals mit einer Rakete reisen können. Nur Babys wollen Astronauten werden. Und Freaks. Mehr als ein Bild. Wie die anderen gelacht haben. Aber sie ist hier, um mich aus dem schwarzen Loch zu ziehen, mich ans Fenster zu ziehen. Zwar ist es helllichter Tag, aber ich kann den Sternenhimmel trotzdem sehen. „Hör‘ nicht auf sie, niemals!“ Mein Gesicht in ihren Händen. Sie kann die Welt halten. „Dort draußen gibt es unzählige Planeten mit Wesen, die so viel freundlicher sind als Menschen. Und weißt du, wer sie entdecken wird?“ Als ich das Wort endlich über die Lippen bringe, ist es mehr als ein Trost. Es ist ein Versprechen. „Wir.“ Sie lächelt. Ein Strahlen, das die Sterne in ihren Augen nicht ganz erreicht. „Nein, mein Schatz. Du.“
6146. 6.1.4.6. Sechstausendeinhundertsechsundvierzig. Sechs. Eins. Vier. Sechs. Ich versuche die Zahl zu fassen, aber sie entgleitet mir. Wieder und wieder. Bleib bei mir. Doch der Himmel ist wolkenverhangen, kein Kristall weit und breit. Und keine Hand mehr, die meine hält. Ob der Weltraum genauso kalt ist? Meine Nase berührt die eisige Fensterscheibe. Kleiner Wagen, großer Wagen, kleiner Hund, großer Hund. Dort schwebt man, hat Mama gesagt. Ist schwerelos. Man ist leichter, alles ist leichter. Aber sie hat auch gesagt, der Besuch im Krankenhaus sei nur für ein paar Nächte. Und ich werde niemals zu alt sein, um an ihre Lügen zu glauben. Nein, an ihre Träume. In dieser Nacht träume ich von ihr, von der Milchstraße in all ihrer Pracht. Milch, die sich mit der schwarzen Suppe und dem Salz zu einer Explosion der Sinne entfaltet. Eine Explosion der Sterne. Wir.
Beerdigungen finden bei Tag statt, die Sterne sind noch immer nicht zurückgekehrt. Nur diese elendigen Wolken. Und die Regentropfen, die sich mit den Tränen auf meinem Gesicht vermischen. Salzkristalle, aber ohne das Leuchten der Sterne. Sie hätte nicht gewollt, unter der Erde begraben zu werden. Wo sie den Himmel nicht sehen kann. Alle tragen schwarz. Schwarz wie das Loch, das ihr Strahlen verschlungen hat. Zusammen mit den Träumen. Nicht einmal das Licht, kann diesen Bereich verlassen, so stark ist die Gravitation. Ich schließe die Auge und versuche, mir die Sterne ins Gedächtnis zu rufen. 6.146. Wie an jenem Abend. Und ich hoffe, dass sie nun einer davon ist. Dass sie da oben ist und sie für mich zählt.
„Den Berechnungen von Simon Drive zufolge gibt es im Universum um die 70 Trilliarden Sterne. Das Problem bei dieser Rechnung ist, dass sie nur vom beobachtbaren Teil ausgeht.“ Nicht 6146. Unmöglich. Unmöglich zu zählen, unmöglich außerirdisches Leben zu finden, unmöglich das ganze Universum zu bereisen. Auf und ab geht er mit diesen Worten. Tag und Nacht hängen wir über unseren Büchern. Nächte ohne Schlaf, ohne Sterne. Anstatt sie zu zählen, zähle ich Bücher voll von ihnen. In großen Sälen, stickigen Zimmern. Überall Männer, die mir erklären wollen, wie die Welt funktioniert, ohne jemals dort gewesen zu sein. Aber in meinen Gedanken trage ich den Nachthimmel, wenn sie mir sagen, was ich kann und was nicht. Ich bin bereits dort, gleite durch Supernovae, Sternenstaub, Salzkristalle. Unwahrscheinlich vielleicht, doch nicht unmöglich. In diesen Momenten schwöre ich mir, dass ich die Erste sein werde. Die Erste, die die Sterne zählt. Für sie.
Die Schwärze öffnet sich vor mir zu einem gleißenden Teppich. Aber sie verschlingt mich nicht, sondern heißt mich in ihrer eisigen Umarmung willkommen. An die Kälte habe ich mich gewöhnt, in mir ist eine Sonne, die mich von innen wärmt. All das, was ich nicht kann, wird klein unter mir. Alles, was die Kinder mir je an den Kopf geworfen haben, die Jungen, die Männer. Ich komme. Und dort sind sie. Jeder einzelne. Irgendwo unter ihnen ist meine Mama. Mehr brauche ich nicht. Noch nicht einmal mehr eine Hand, die mich hält. Und ich zähle. Bis ich alle 6.146 Sterne gefunden habe.