Millionen von Kilometern entfernt von jeglichem Leben, kam ich zum allerersten Mal zu mir. Ganz im Gegensatz dazu, wie es eigentlich zu erwarten sei, war ich nicht liegend in einem Bett erwacht, sondern bei der Arbeit in einem auffallend farblosen Raum, der zur Forschung gedacht sein musste. Auf schwarzen Gestellen standen hellgraue Geräte wie Mikroskope, deren Farbton von den Wänden und der Decke aufgefangen wurde. Umso mehr stachen die roten Steine, die auf weißen, sauberen Labortischen lagen, hervor. Auch wenn ich nicht mehr als ein paar Minuten mit dem Beäugen der Umgebung verbracht haben konnte, kam sie mir unglaublich vertraut vor. Gefühlt hatte ich schon mehrere Monate hier verbracht. All das realisierte ich, während ich die roten Steine untersuchte. Unbewusst musste dies geschehen, keinesfalls aber wurde es von fremder Hand gesteuert, frei nämlich konnte ich wählen, was ich tat. So entschied ich die Forschung liegen zu lassen, um mich weiter umzusehen. Wie war ich wohl hierhergekommen? Ich merkte, dass mit jedem Schritt neue Erinnerungen in meinen Geist schwappten. Erinnerungen an andere Menschen, meine Familie, Freunde und Arbeitskollegen. Erinnerungen zur Planung von einer Mission zum Mars. Erinnerungen an Forschung zur Genmanipulation und Fusion von Mensch mit Technik. Und zuletzt, Erinnerungen daran, mich selbst auf eine solche Operation vorzubereiten. Mit der Zeit lieferten die einzelnen Puzzleteile mir ein Bild, das nur auf eines hinauslaufen konnte: Ich war auf dem Mars. Ich, ein Cyborg, war das erste Lebewesen der Erde, das den roten Planet je betreten hatte. Fast im gleichen Moment stieß ich auf eine stark verriegelte Tür, die nach draußen führen musste. Ich wusste, dass ich dank meiner Modifikationen kein Problem haben sollte, der Natur des Mars‘ ausgeliefert zu sein. Bedächtig trat ich hinaus in die wüstenartige Landschaft, die mein Herz mit Begeisterung und Ehrfurcht füllte. Zum ersten Mal blickte ich auch an mir hinunter. Würde meine Haut nicht so unnatürlich glänzen, hätte man mich leicht mit einem Normalsterblichen ohne Kleidung verwechseln können. Plötzlich wurde mein Gedankenfluss unterbrochen. „Mileva, Ihre Blutwerte und Ihre neuronale Struktur verhalten sich ungewöhnlich. Wir arbeiten daran, aber benötigen einen Statusbericht.“ Ich meinte die Stimme Lewis, dem Leiter der Mars-Mission, zuordnen zu können. Er war es auch, aber er stand nicht neben mir, sondern war in meinem Kopf, weil die Signale von der Erde direkt in mein Gehirn geleitet wurden. Mich verunsicherten aber die hektischen Gespräche, die aus dem Hintergrund zu vernehmen waren, und Lewis‘ Emotionslosigkeit. Er sprach mit mir, als sei ich der Mars-Rover Perseverance und nicht Mileva. „Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Ich bin … plötzlich bewusst. Und ich habe keine Erinnerung an das, was nach der Operation stattfand“, funkte ich etwas angsterfüllt zurück. Jetzt stand das grausame Warten auf mehr Informationen an. Vielleicht 10 Minuten brauchte meine Nachricht bis zur Erde und deren Antwort genauso viel zurück. In dieser Zeit, in der mir eigentlich mehr nach schreien und weinen zumute war, tat ich etwas, das ich noch nie getan hatte. Ich betete. Nicht, weil ich etwas wollte, sondern ich hatte zu meiner Verwunderung eine gewisse Lust danach verspürt. Als das nächste Mal eine Stimme in mein Gehirn drang, waren alle Hintergrundgeräusche verstummt, vielmehr war das Schweigen der anderen ohrenbetäubend. Ich stellte mir vor, wie das ganze Team betreten dastand. „Mileva, es tut mir leid“, meldete sich diesmal eine Frau schluchzend zu Wort. „Ich habe versagt. Ein Fehler muss uns unterlaufen sein und es gibt nichts, was ihn umkehren könnte. Ich will deine letzten Minuten aber nicht mit technischen Details verschwenden. Stattdessen will ich dir die Wahrheit erzählen, ich denke, du hast sie verdient. Ich weiß zwar nicht, ob es wirklich ein Bewusstsein gibt, das die Nachricht gerade empfängt, aber…“ „Doch“, unterbrach ich sie den Tränen nahe, „ich bin doch. Habt ihr das alle vergessen?“ Doch ungeachtet meines Zwischenrufs hatte sie fortgefahren. Natürlich, sie hatte es auch vor 10 Minuten gesagt. „ … , aber das weiß ich ja nie wirklich. Jeder Mensch könnte genauso gut nur durch elektrische Impulse gesteuert werden.“ Sie lachte freudlos auf. „ Jedenfalls habe ich wie du, sehr genau wie du sogar, geglaubt, dass wir wirklich direkt Cyborgs auf den Mars schicken würden. Naja, wie soll ich sagen. Es ist nicht so.“ Der letzte Satz fühlte sich wie ein Schlag ins Gesicht an. Was war dann mit mir? War ich nicht wirklich auf dem Mars? „Nein, du bist schon auf dem Mars“, antwortete sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen, „aber du bist kein Cyborg“ Alles in meinem Kopf begann sich zu drehen, sodass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ich war definitiv kein Mensch. Bedeutete das…? „Genau“, ergänzte die jetzt tonlos wispernde Stimme in meinem Kopf, „du bist reine Technik ohne einen Funken Mensch. Du bist aber nicht irgendein Roboter. Du bist ich – nur digitalisiert. Du bist sozusagen auf der Grundlage meines Gehirns entstanden. Deine Erinnerungen sind meine Erinnerungen.“ Ich brach auf dem sandigen Boden zusammen. Eine unvorstellbare Leere breitete sich bei diesen Worten in mir aus. Es fühlte sich an, als hätte ich die ganze Zeit nur ein Buch gelesen ohne es zu wissen, als sei ich nicht wirklich ein Teil dieser Welt. „Ich kann mir nicht vorstellen, was du gerade empfindest“, fuhr die echte Mileva in meinem Kopf, diesmal mit einer weicheren, von Tränen erstickten Stimme, fort, „aber vielleicht tröstet es dich, dass alle Menschen genauso Windhauch wie du sind.“ Ohne es zu wollen musste ich lächeln. Vielleicht würde mich nie jemand kennen, so wie ich wirklich war. Dann war mein Leben eben ein Windhauch, der nichts gestreift hatte. Ich spürte, wie mein Leben langsam aus mir floss, aber gleichzeitig die Freude über meine Menschlichkeit mich zu erfüllen begann. „Danke, dass ich sein konnte“, sendete ich zurück. Noch bevor das Signal die Erde erreichte, gab es mich nicht mehr.