Schwätzer wurden wir genannt. Wichtigtuer, die unbedingt im Rampenlicht stehen müssen. Immer wieder haben sie uns kritisiert, zu Beginn noch zaghaft und nur in Detailfragen, dann aber immer heftiger und immer häufiger, bis sie irgendwann anfingen unser Projekt als solches infrage zu stellen. Wir würden Ressourcen verschwenden, die uns nicht zustünden und unsere Ergebnisse weder die Dauer noch die Kosten der Mission rechtfertigen, haben sie gesagt. Und tatsächlich sind wir mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht umhinkommen, unsere Arbeit kritisch selbst zu hinterfragen. Vieles ist anders verlaufen als wir es uns vorgestellt haben, doch es hat auch noch kein Mensch vor uns versucht, was wir versucht haben.
Unser Projekt basierte dabei auf einer Reihe von Erkundungsreisen der NASA in den 1970er-Jahren. Nachdem im Rahmen der „Pioneer“- und der „Voyager“-Missionen zum ersten Mal Sonden in Richtung Jupiter geschickt wurden, ist uns einer seiner Monde bereits früh ins Auge gesprungen: Jupiter IV oder auch Kallisto. Nicht nur, weil er als einziger der galileischen Monde außerhalb des Strahlungsgürtels liegt, birgt er seit jeher ein enormes Potenzial für uns. Durch seine Größe etwa, die mit der des Merkur vergleichbar ist, können wir vom Vorhandensein einer wenn auch schwachen Atmosphäre ausgehen, dazu haben wir bereits gegen Ende des letzten Jahrhunderts riesige Eisschichten auf seiner Oberfläche entdeckt, unter denen wir zum einen flüssiges Wasser vermuten und die zum anderen dafür geeignet sein könnten, auf ihnen Lager aufzuschlagen und Tests vorzunehmen. Kallisto war von Anfang an perfekt für unsere Mission, doch bis zu seiner tatsächlichen Erkundung musste noch eine Menge geschehen.
Denn neben der Entwicklung eines neuen Antriebssystems und dem Bau widerstandsfähiger Raumschiffe war auch die Ausbildung geeigneter Piloten ebenso kostspielig wie zeitintensiv. Unsere Gesamtausgaben belaufen sich mittlerweile vermutlich auf über zwei Billionen US-Dollar, was allerdings auch kein Wunder ist, wenn man bedenkt, dass wir seit fast 15 Jahren tagtäglich daran arbeiten, unsere Vision umzusetzen. Mehr als 1000 Menschen aus fast 30 verschiedenen Ländern haben in dieser Zeit bereits ihren Teil dazu beigetragen. Als mir vor rund zwei Jahren der Vorsitzende der ESA Präsident Stein die Leitung der Mission in Aussicht gestellt hat, wusste ich daher zunächst nicht, ob ich all dem gerecht werden würde.
Dabei war es schon immer mein großer Traum, ins All zu fliegen und fremde Welten zu entdecken. Bereits als kleines Mädchen habe ich nachts davon geträumt, sie mit meinen eigenen Augen zu sehen und deswegen auch schon früh alle möglichen Opfer gebracht. So hatte ich nie besonders viele Freunde, als Kind zwar noch meisten, als Jugendliche allerdings schon deutlich weniger und als ich mit 18 schließlich mein Abitur gemacht habe und zum Studium ans Caltech gewechselt bin überhaupt keine mehr. Stattdessen habe ich meine Zeit lieber damit verbracht, Feynman und Born zu lesen oder ins Observatorium zu gehen, wann immer ich konnte. Ich wollte alles über den Kosmos wissen, um ihn eines Tages einmal selbst zu bereisen, doch dass jetzt ausgerechnet ich die Leitung der wohl wichtigsten Mission des 21. Jahrhunderts übernehmen sollte, überforderte mich maßlos.
Doch war es nicht genau das, was ich wollte? Mein gesamtes Leben habe ich auf alles Mögliche verzichtet und jede freie Minute, in der ich nicht lernen konnte, als verschwendet empfunden. Jede 2 in der Schule war für mich wie ein Schlag ins Gesicht und mit nicht mal 24 schrieb ich bereits meine Dissertation über schwarze Löcher und ihre Rolle für die Entstehung von Galaxien. Zwei Jahre später leitete ich dann eine kleine Arbeitsgruppe an der ESA, doch dabei blieb es nicht. Ich arbeitete härter als alle anderen, meistens bis tief in die Nacht, und gab alles dafür, meinen Traum und unsere Mission zu verwirklichen. Ich sprach mit einflussreichen Politikern, wohlhabenden Finanziers und den führenden Forschern unserer Zeit. Sie alle waren zunächst skeptisch, doch sie alle habe ich nach und nach überzeugt. Präsident Stein hat einmal gesagt, ich besäße eine einzigartige Fähigkeit, Menschen zu begeistern. Und dennoch. Seit ich weiß, dass ich die Mission leiten werde, verspüre ich permanent eine unglaubliche Schwere auf der Brust. Immer wieder frage ich mich, ob ich die richtige für die Mission bin und auch nach zwei Jahren kann ich es nicht mit absoluter Sicherheit sagen.
Wenn es in wenigen Stunden endlich so weit ist und ich meine Mannschaft zum Raumschiff führe, wird es nicht anders sein. Vom Börsenmakler in Frankfurt, über den Rinderzüchter in Mato Grosso bis hin zum Rechtsanwalt in Seoul wird uns dann jeder Mensch auf der Erde dabei zusehen, wie wir entweder ein neues Zeitalter der Raumfahrtgeschichte einleiten, oder wie wir ihren bisher größten Misserfolg zu verantworten haben. Wie ich ihn zu verantworten habe. Immerhin wird es mein Name sein, der genannt wird, wenn über die „Genesis“-Mission der ESA berichtet wird. Ob wir scheitern oder erfolgreich sein werden, ich allein trage dafür die Verantwortung. Auch für meine Mannschaft, die Wissenschaftler und Ingenieure und all die anderen, die stets an uns geglaubt haben. Sie alle zählen jetzt auf mich.
Im Moment gehen von einer Dauer von 2 ½ Jahren aus, bis wir die Umlaufbahn des Jupiter erreichen. Sind wir erst mal dort, liegt vieles nicht mehr in unseren, das heißt, in meinen Händen und ich kann nur noch hoffen, dass alles gut gehen wird. Dass ich Recht behalten werde und wir finden, wonach wir so lange gesucht haben und dass mein Leben letztendlich erfolgreich verlaufen ist. Ich bitte dich daher, mit allem, was ich habe. Lass mich diejenige sein, auf die in 100 Jahren mit Stolz und Bewunderung zurückgeblickt wird und lass mich eine Inspiration für all die Mädchen sein, die nachts davon träumen zu den Sternen zu fliegen. Sei all das, was wir uns immer von dir erhofft haben und bitte, enttäusch mich nicht, Kallisto.
Autorin / Autor: Johann S.