Bollywood - Filme aus Indien
Wer "Pretty Woman" noch immer für den schmachtendsten Schmachtfetzen aller Zeiten hält, kennt keinen Bollywoodfilm.
"Sometimes happy, sometimes sad", ein Bollywood-Film, der im Frühjahr 2003 in die Kinos kam, handelt von den ganz großen Gefühlen. Es geht um Liebe und zuallererst um die Liebe zwischen Kindern und ihren Eltern. Die auf den Prüfstand gerät: der Vater verliert seinen Sohn, weil er diesem die Liebesheirat verbietet und ihn verstößt, als er nicht von seiner Geliebten lassen kann. Der Sohn geht, zutiefst verletzt, ins Ausland und baut sich in London - mit seiner Geliebten - ein neues Leben auf. Die Mutter leidet unendlich unter dieser Trennung, genau wie Vater und Sohn, nur diese können es nicht offen zugeben. Nach langem Sehnen und einigen Irrungen treffen sie sich - arrangiert als Zufall - in London wieder. Und die Tränen kennen kein Halten mehr!
Masala-Mix: immer muss die Mischung stimmen
Große Gefühle, Leidenschaft, Leid - kein Bollywood-Film kommt ohne sie aus. Diese Filme werden - als Anlehnung an die indische Gewürzmischung - auch "Masala"-Filme genannt. Wie bei einem guten Gericht muss die Zusammenstellung genau stimmen. Dabei kommt es gar nicht darauf an, immer wieder neue Geschichten zu erfinden. Im Gegenteil - der "Masala"-Film basiert tatsächlich eher auf einigen wenigen "Grundrezepten", die immer wieder variiert werden. Da gibt es - wie bei "Sometimes happy, sometimes sad" - die Story von der Liebe zwischen Eltern und Kindern, die auf die Probe gestellt wird, die Geschichte der getrennten Geschwister, die nach langen Jahren wieder aufeinander treffen. Last not least gibt es vor allem immer ein Thema: das der glücklich-unglücklichen Liebe, meistens in der Form, dass ein reicher, hübscher, junger Mann, dem schon jede Menge reiche, hübsche, junge Frauen nachjagen, sich ausgerechnet in ein armes, hübsches, junges und am besten tolpatschiges Mädchen verliebt - und sie in ihn. Und irgendwer ist immer gegen so eine Beziehung. Nichts anderes als eine indische Form von "Pretty Woman" also? Das Strickmuster ist sehr ähnlich. Die Ausstattung und die Art und Weise, wie Bollywood dieses moderne Märchen inszeniert, könnten jedoch nicht unterschiedlicher sein.
Moderne Märchen
Das beginnt mit den kaum zu ertragenden schmachtenden Gesichtsausdrücken der SchauspielerInnen, gegen die Julia Roberts und Richard Gere in "Pretty Woman" zu MinimalistInnen werden. Diese Passagen sind endlos gestreckt - bis selbst das härteste Zuschauergemüt anfängt zu schluchzen, zu kichern - oder den Kinosaal verläßt. Masala-Filme polarisieren: entweder man liebt sie - oder man kann sie nicht ertragen. Sie sind - immer - einige Stunden lang, haben ein unglaublich ausgeschmücktes Bühnenbild - und ganz wichtig: sie haben immer mehrere Tanzszenen, die meistens auf einem indischen Hit basieren - oder auf Songs, die durch den Film zu einem Hit werden. Und am Ende steht ein an Melodram und Zeigefinger-Pädagogik kaum zu überbietender glücklicher Ausgang der Geschichte.
Soziale KinogängerInnen
Das indische Publikum will anscheinend gar nicht durch Neues überrascht werden - sondern hat eine ganz andere Erwartungshaltung. Kino ist in Indien eine gemeinschaftliche Angelegenheit, man geht mit der ganzen Familie ins Kino, und bleibt nicht die ganze Zeit auf seinem Platz, sondern kann auch rausrennen, sich mit anderen treffen, besprechen, etwas essen - Kino hat Volksfestcharakter, worauf sich auch Snack- und GetränkehändlerInnen eingestellt haben. Man erwartet also nichts Ungewöhnliches, keine Nouvelle Vague, keinen Sozialrealismus - sondern man will sich im Kino geborgen fühlen, geschützt sein vor bösen Überraschungen. Denn böse Überraschungen hat man im realen Leben mehr als genug. In Indien ist über die Hälfte der Bevölkerung bitterarm. Viele müssen Tag für Tag um ihr tägliches Brot kämpfen. Daher ist uns EuropäerInnen Indien weniger als weltgrößtes Filmland (denn das ist es mit über 800 Produktionen im Jahr!) oder als Wirtschaftssupermacht, sondern eher als Entwicklungsland mit Slums, Kinderarbeit und starrem Kastensystem ohne Chancengleichheit bekannt. Die Lebenswirklichkeit der meisten InderInnen hat mit der Kinowelt überhaupt gar nichts gemein. Dennoch, oder gerade deshalb, lieben InderInnen ihr Kino. Für den Preis einer Kinokarte kann man am dargestellten Luxus, am technischen Fortschritt teilhaben, sehen, wie die Reichen angeblich leben, in Gefühlen schwelgen, die man sich sonst zu haben nicht erlauben kann. Daher die Überlänge der Masala-Filme? Bollywood ist in einem noch stärkeren Maße als Hollywood eine Industrie, die Realitätsfluchten ermöglicht - und verkauft.
Hier geht's weiter
Autorin / Autor: ~astrid~ - Stand: 23. Januar 2003