(auf)atmen
Beitrag zum Wettbewerb green poems von Lilli Dahl, 24 Jahre
Die Landschaft draußen rast an mir vorbei.
Grüne Felder, blaue Meere, endlose Weiten unberührter Natur.
Ich halte meinen Kopf aus dem Zugfenster, frische Luft weht mir die Haare aus dem Gesicht.
Ich atme tief ein. Schließe die Augen.
Stelle mich der Realität.
Das Grün der Wälder verblasst.
Nur noch jeder fünfte Baum gesund.
Trockenheit, Waldbrände und Stürme.
Tote Borken, ausgedorrte Waldböden, Stapel von abgeholzten Bäumen warten darauf im nächsten Kamin verbrannt zu werden.
Der Regenwald, abgeholzt.
Indigene Völker, vertrieben, ihres Lebensraumes, ihrer Kultur beraubt.
Der Atem der Wälder, die Lunge unserer Welt, wird schwer.
Sie sind es müde die Fehler der Menschen auszubaden.
Das Blau der Meere verblasst.
Ozeane voller Plastik, ausgetrocknete Flussbetten, überflutete Städte.
Abwasser, Öl, Müll wird in die Meere entlassen, sein Boden vollgepumpt mit CO2, leergefischt und ausgeraubt, die letzten Bewohner ringen ums Überleben.
Eine Gesellschaft des Konsums. Des Genusses.
Die Netze der regionalen Fischer. Leer.
Korallenriffe nur noch ein Schatten ihrer Selbst.
Der Atem der Meere geht schwer.
Sie sind es müde die Fehler der Menschen auszubaden.
Das strahlende Weiß der Polarkappen wirkt grau und ausgeblichen.
Schmelzende Gletscher. Können das Sonnenlicht immer schwerer reflektieren.
Einzelne Eisschollen bieten letzte Lebensräume auf Zeit.
Der Meeresspiegel steigt.
Kipppunkte, kurz vorm Kippen.
Nicht mehr umkehrbar.
Die Erde ist es müde die Fehler der Menschen auszubaden.
Und was ist mit den Menschen?
Viele kämpfen um ihr Überleben.
Kriege um Macht und Ressourcen.
Vertreibung, sexualisierte Gewalt, Ausbeutung, Entwürdigung, Tod.
Lebensräume werden verschluckt. Ausgelöscht.
Menschenleben, Geschichten werden verschluckt und ausgelöscht.
Während andere in ihren Privilegien schwimmen.
In einer Welt des Konsums, des nie genug Bekommens.
Des Egoismus.
Profitierende Großkonzerne, Superreiche und scheinbar machtlose Politiker*innen.
Sie alle verschließen die Augen.
Oder haben verlernt zu sehen?
Und wer bin ich in all dem?
Fühle mich klein. Unbedeutend. Machtlos.
Privilegiert.
Wie kann ich mein Leben so weiterleben? Studieren? Freundschaften schließen?
Wie irrelevant scheinen meine täglichen Sorgen, Ängste, Zweifel.
Wie irrelevant scheint meine tägliche Suche nach mir selbst, meinem Ziel, meiner Bestimmung.
Darf ich danach suchen, wenn es so viel wichtigere Kämpfe gibt?
Und lohnt es sich noch zu kämpfen, wenn die Welt eigentlich schon zugrunde gerichtet ist?
Wenn die Menschheit in dem Bruchteil einer Sekunde gezeigt hat, wie wenig würdig sie es ist, auf dieser Erde zu leben?
Meine Antwort ist JA.
Für Solidarität. Für Gerechtigkeit.
Dafür, dass nicht diejenigen am meisten leiden, die am wenigsten dazu beigetragen haben.
Kann nicht ruhen,
solange täglich Menschen ihre Heimat verlassen müssen,
während andere mehrere Häuser besitzen.
Kann nicht leise sein,
solange täglich Menschen ihr Leben in Kriegen aufs Spiel setzen,
während andere aus der Ferne fiktive Friedensverhandlungen führen.
Kann nicht aufgeben,
solange täglich so viele Menschen für eine gerechte Welt kämpfen,
während andere noch gar nicht bemerkt haben, dass wir in einer ungerechten leben.
Was also sehe ich, wenn ich die Augen wieder öffne?
Eine Welt, in der Solidarität das höchste Gut ist.
In der wir im Einklang mit der Natur leben.
Eine Welt, in der jeder Mensch die gleichen Rechte und Möglichkeiten hat.
In der wir alle Zeit damit verbringen können uns auf die Suche nach der persönlichen Erfüllung zu begeben.
Eine Welt die endlich wieder
Luft
holen kann.
Autorin / Autor: Lilli Dahl