Einsendung zum Schreibwettbewerb Dr. Futura im Wissenschaftsjahr Gesundheitsforschung
Sie liegt da, so ruhig und friedlich als würde sie schlafen, doch ich weiß: Sie ist tot. Ich blicke hinab zu ihren lilienweißen, zierlichen Körper, hinab zu den feinen dünnen Fingern, die ein Stück des neben ihr zersplittert liegenden Spiegels umklammern, hinab zu dem vielem Blut. Ich hatte mir oft vorgestellt wie jemand Totes wohl aussehen würde. Ich hatte immer gedacht Verstorbene hätten ihren Glanz verloren, seien nur noch eine leere Hülle. Ein schrecklicher Anblick, doch das hier war auf eine bizarre Art und Weise wunderschön. Ihr weißes Kleid ist blutgetränkt. Anscheinend hatte sie ihre Handgelenke mit dem Stück Spiegel aufgeschnitten. Ich wage es nicht wegzusehen, aus Angst ich könnte etwas verpassen. Mich lässt das Gefühl nicht los, dass sie noch hier ist. Ihr Glanz, ihr Leben, es schwirrt durch diesen Raum. Dann lässt mich dieses Gefühl urplötzlich los und mich holt alles ein. Die Trauer und die Wut und der unglaubliche Hass. Aber vor allem der Wunsch nach Rache.
Früher oder später hatte es kommen müssen. Das war mir von Anfang an klar gewesen als ich wegrannte, doch ich kann nicht leugnen, dass da, tief in mir, eine Hoffnung bestanden hatte, sie würden mich nicht finden. Ich schlotterte am ganzen Körper. Der Pfleger, der mich zum Wagen bringen sollte, legte die Handschellen so fest an, dass mir Tränen in die Augen schossen. Ich keuchte, aber anscheinend hatte er nur darauf gewartet, dass ich Schwäche zeigen würde. Er lachte kalt und gehässig auf und rief dem anderen Pfleger, der am Auto wartete etwas von wegen „War ja klar, ohne die Spritzen halten die nie was aus“ Der andere grinste. Beide waren stark bewaffnet, als würde ich eine Bedrohung darstellen, als würde ich, bloß weil ich nicht tat was alle taten, gefährlich sein. Ein Lächeln huschte nun auch über mein Gesicht. Ein Lächeln, das ich mit einem Schlag des Pflegers bezahlte. Ich stolperte nach vorne, konnte mich aber auf den Beinen halten. „Los Beeilung“, der andere Mann am Auto schien genervt zu sein. Ich betrachtete ihn genau. Den großen, ernst dreinblickenden weiß gekleideten Mann. Wie würde ich meine Schwester je rächen können? Sie waren verantwortlich für ihren Tod. Die Ärzte, sie und das Medikament. Die Heilung, so hatte es geheißen, die Heilung aller Krankheiten, die Heilung vor Kummer, Not und Elend, sie hätten sie gefunden. Eine kleine Spritze sollte helfen, gegen den Schmerz der Welt. Als die Spritzen auf den Markt kamen, waren sie eine Art Luxusdroge für die Reichen. Kein normaler Mensch hätte sie sich leisten können. So waren im Fernsehen die ganzen Promis gewesen und hatten mit einem dämlichen Grinsen auf dem Gesicht für die Spritze geworben. „Ich fühle keine Wut mehr, keinen Schmerz, kein Stress nichts.“Wie oft hatte ich sie diesen Satz freudenstrahlend verkünden hören… Es dauerte nicht lange und die Preise der Spritzen sanken, sie wurden zugänglich für jeden. Die Hälfte meiner Klasse nahm das Medikament. Sie wurden alle ruhiger und hörten auf zu streiten und zu lärmen, lächelten ununterbrochen. Alle schwärmten von der Heilung.
Drei Jahre nach ihrer Entdeckung war es dann so weit, die Regierung unterschrieb den Vorschlag sie für das ganze Volk einzuführen. Nun war sie kostenlos. …Und Pflicht. Sie war perfekt. Man empfand keinen Schmerz mehr, keine großen Gefühle, lief nur noch von allem gedämpft, weit, weit weg, durch die Welt, von der man sich gedanklich immer mehr entfernte. Man war woanders und ließ alles um sich versumpfen, versank in einer Gleichgültigkeit. Die Welt war süchtig nach der Spritze, der Heilung. Sie musste regelmäßig genommen werden. Jede Woche wurde unser Dorf geimpft. Es wurde kontrolliert. Wer nicht kam, den holten die Ärzte. Die Spritze musste genommen werden. Aber die Menschen, die die Ärzte holten, kamen nicht wieder. Ich weiß noch als meine Schwester eines Tages vor mir stand, die Augen weit aufgerissen und eines ihrer Bücher in der Hand. Sie war immer schon sehr blass, doch so wie sie mich da ansah, so hatte ich sie noch nie gesehen. „Wir müssen weg.“ Flüsterte sie. Ihre Worte hallten in meinen Kopf, es dauerte lange bis ich begriff, was sie sprach. Verständnislos hatte ich sie angesehen. Aber sie hatte mich einfach an der Hand genommen und hatte mich mitgeschleift. „Ich versteh nicht.“ Sagte ich. „Wieso müssen wir weg?“ „Ich hab die Spritze nicht genommen“. Sie wisperte und ignorierte meine Reaktion: Erneute Fassungslosigkeit. Es war wieder „Impftag“ und ich hatte noch nicht das Medikament bekommen, die Spritze ließ bei mir nach, meine Gefühle begannen wieder stärker zu werden und ich spürte Wut in mir aufkeimen. Ich blieb stehen. „Wieso? Wie kannst du das wagen?! Es wird uns die perfekte Welt geboten und du… du demonstrierst gegen das Glück?!“ Ich war atemlos und mein Herz pochte. Sie war ebenfalls stehen geblieben und starrte mindestens ebenso wütend zurück. „Weißt du was?! Geh doch zurück, lass dir doch die Spritze geben, versink doch wieder in deiner Teilnahmslosigkeit. Aber sag mal, wann hast du das letzte Mal was gefühlt? Und ich mein nicht diesen Dumpfen Abklatsch von Empfindungen, die du spürst, wenn du die Spritze nimmst. Wann ist dir das letzte Mal aufgefallen, wie schön es hier draußen ist?“ Sie deutete auf die bunten Blätter der Bäume. Peinlich berührt bemerkte ich, dass es Herbst war. Ich hatte tatsächlich alles um mich herum vergessen. „Wann hast du das letzte Mal, gespürt, dass du lebst?“ Ihre Stimme war ganz weit weg von mir. Und ich, ich war ganz nah, bei mir und auf der Welt. Wir beide liefen also weg, doch meine Schwester hielt nicht durch. Sie war immer schon sehr zart und schwach gewesen. Nachts wachte ich oft auf und hörte sie im Schlaf weinen, dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen und sie wurde immer dünner. Dann griffen mich die Pfleger auf, folterten mich, bestraften mich, gaben mir ihr „Medikament“. Aber ich schaffte es, wie auch immer, ich schaffte es, rannte weg, fand meine Schwester, doch sie hatte nicht durchgehalten. War zerbrochen an Kummer und Leid. Hatte mich wohl für verloren gehalten… Sie hatte sich umgebracht. Aber ich würde sie rächen, koste es was es wolle. Ich würde sie rächen und ihre Heilung zerstören, eine Heilung, die uns Menschen die Welt aus Egoismus, den Wunsch nach dem eigenen Wohl vergessen lässt. Ohne schlechte Dinge, ohne Qualen, kann es nun mal auch nichts Gutes geben. Wie konnte die Menschheit das nur vergessen? Ich lief weiter zum Wagen, vor dem der Pfleger stand und schwor mir der Welt, die wahre Heilung zu bringen: Die Abschaffung der Spritze und die Gabe zu akzeptieren, dass es nun mal Schmerz gibt, der uns allerdings auch erkennen lässt, wie schön das Leben sein kann.