Einsendungen zum Schreib- und Bilderwettbewerb im Wissenschaftsjahr 2012 - Zukunftsprojekt Erde
Ort: Sphäre, 9000 m über der Erde
Zeit: Tag der Energie, 2145
Meine Knie zittern, dabei stehe ich noch nicht auf dem gläsernen Podest, das sich riesenhaft vor mir erhebt. Ich balle meine Hände zu Fäusten und zerknittere dabei das Papier zwischen meinen Fingern. Die schwarzen Buchstaben darauf sehen aus wie Käfer, die sich dicht aneinanderpressen. Ich höre das Tosen der Menge draußen. Wie eine Sturmflut bricht alles über mir zusammen. Die Jubelrufe, die trampelnden Füße, das gekünstelte „Danke, danke!“ des Redners. Ich seufze, als ich die Schlagzeilen in meinem Brace, dem neusten Kommunikationsinstrument im neuen Armbanddesign, lese. Das silberne Feld, das sich aus meinem Armband erhoben und vor meinem Gesicht ausgebreitet hat, wird nur so von Texten überflutet.
Bürger der Sphäre begeistert von den Plänen der United World Organisation.
L.G. Willow hat mit seinem Projekt „Atomkraft 9000 Meter unter unseren Füßen“ mal wieder tausende Sympathien gewonnen.
„Atomkraft? Ja, bitte!“ heißt nun das Motto.
Ich starre auf das Logo der Aktivisten. Vor mehr als hundert Jahren waren die Menschen klüger gewesen, damals, als sie noch gegen Atomkraft waren und Pläne ausgearbeitet haben, wie sie den Atomausstieg am besten gestalten. Wie sie diese unkontrollierbare Energie durch umweltschonende, sicherere Alternativen ersetzen könnten. Aber der Atomausstieg hatte sich schwieriger gestaltet als gedacht. Viele Länder hatten beschlossen, dass es keinen anderen Weg aus der Energiekrise gibt. Sie tragen die Hauptschuld daran, dass es so weit gekommen ist. Sie sind der Grund, warum wir heute hier, neuntausend Meter über dem Erdboden, leben. Ich bin überzeugt davon, dass wir heute nicht so abhängig von Atomkraft wären, wenn wir noch auf der ursprünglichen Erde leben würden und nicht in einem künstlichen Raum ohne echte Natur, die Leben ernähren kann. In der Sphäre fühlen sich die Menschen sicher, die Gefahren sind unter ihren Füßen, abgeschirmt von einem dicken und, wie ich zugeben muss, sehr resistenten Boden aus einer Verbindung von Aminosäuren, die eine sehr kräftige und tragfähige Masse bilden, stark genug, um Wolfram-carbid, das härteste Material der Welt, zu tragen.
Es wird der Menge nicht gefallen, was ich zu sagen habe über die dreizehn defekten von 507 Atomkraftwerken weltweit, die sich wie riesenhafte Schatten unter dem sicheren, milchig-weißen Boden der Sphäre erheben. Mein Name leuchtet über einer unscheinbaren automatischen Tür vor mir auf. Sie gleitet auseinander, das Brace verschwindet, ich stelle die Tastensperre ein, indem ich mein Armband verdrehe, während ich mich auf die graue Plattform stelle. Mit einem leisen Klicken schließen sich die automatischen Türen und ich werde mit Hilfe der Plattform auf das Podest befördert. Gleißendes Licht blendet mich, das Jubeln der Menge verstummt.
Tief durchatmen, beschwöre ich mich. Ganz ruhig.
Ich räuspere mich. Das Mikrofon trägt das Geräusch über die Menschenmenge, die mich aus Milliarden von neugierigen Augen anstarrt. Ich lege das Papier, das ich vorhin noch zerknüllt hatte, auf das Rednerpult und streiche es mit zitternden Fingern glatt.
„Bürger dieser Welt“, ich beginne anders, als es üblich ist. Ein guter Redner begrüßt zu allererst die Politiker. Ich spüre ihre halb wütenden, halb überraschten Blicke wie Dolchstiche in meinem Rücken und befürchte tatsächlich für einen Moment, dass sie sich jeden Moment auf mich stürzen. Aber das können sie nicht. Nicht jetzt.
Eine erdrückende Stille liegt über dem Platz. Alle warten darauf, dass ich weiterspreche.
„Fünfhundertundsieben Atomkraftwerke sind derzeit in Betrieb. Sie liefern uns Energie, Wärme, Licht. Aber haben sie das immer schon? Was passierte 1986 und 2011? Ja, Tschernobyl und Fukushima liegen inzwischen weit zurück. Die Technik hat sich verbessert, wir haben die Atomenergie sicherer gemacht, weil wir, wie Zhang Lijun aus China es wollte, von Japan gelernt haben und diese schmerzhaften Lektionen in den Aufbau der Atomenergie haben einfließen lassen. Und dennoch stehen unter unseren Füßen Gebilde, die wie tickende Zeitbomben sind. Wir stehen auf einem künstlichen Boden, gemacht aus Glycin, Beta-Blättern und Alanin-Molekülen, die eine spinnenfadenähnliche Substanz bilden, gemischt mit Wolframcarbid, dem härtesten Material der Welt. Aber auch der Schutz durch diesen Boden hat seine Grenzen. Ihr glaubt, dass ein Unfall, neuntausend Meter unter unseren Füßen, euch nichts anhaben kann?“, langsam gewinne ich an Fahrt. Einige Gesichter wenden sich ab, tuscheln, ich bin wütend, als ich rufe: „Auf diesem Boden wächst nichts! Ihr seid auf die Erde unter euch angewiesen, sie ernährt euch. Die Sphäre als Lebensraum allein ist schon lang keine Lösung mehr – und die United World Organisation, der ihr so begeistert zugejubelt habt, weiß das. Noch vor zwanzig Jahren habt ihr euch darüber aufgeregt, dass euch als Erbe eine beinahe zerstörte Welt hinterlassen wurde. Jetzt, im Jahre 2145, solltet ihr an die Zukunft denken und an das, was sie euren Kindern bringen wird. Wir haben eine Verantwortung für das, was wir tun! Heute interessiert es euch nicht, denn ihr glaubt jedes Wort, das euch von der U.W.O diktiert wird.“, die Menge schnappt nach Luft. Ich habe soeben mein eigenes Todesurteil gesprochen.
„Doch ihr werdet noch begreifen, dass ihr Fehler gemacht habt, wenn die dreizehn Atomkraftwerke explodieren. Wenn es nicht nur einen Super-Gau gibt, sondern 507. Wenn plötzlich aus der ganzen Welt Tschernobyl und Fukushima wird! Später werdet ihr darüber weinen, aber dann ist es zu spät, etwas zu ändern, denn dann habt ihr bereits die Erde vollkommen zerstört.“, ich lasse meinen Blick über die Menge schweifen. Ich schließe die Augen für einen Moment und blicke dann zu den großen Leinwänden auf der anderen Seite des Platzes. Sie zeigen nicht mein Gesicht, sie zeigen die Reaktionen der Menge.
Ich habe mich nicht geirrt.
Sie weinen, jedenfalls ein paar von ihnen. Sie erinnern sich an eine schreckliche Zeit. An eine Zeit voll von Hunger, Krankheit und Tod. Und ich habe jetzt ihr kleines Paradies zum Bröckeln gebracht. Ein halb wehmütiges, halb mitleidiges Lächeln huscht über mein Gesicht.
„Aber jetzt, jetzt ist noch Zeit umzukehren und die Welt zu retten“, ich bin fertig. Ich habe das gesagt, was ich sagen wollte.
Es herrscht eine Minute Stille. Schweigend starren mich die Menschen an. Dann beginnen ein paar zu klatschen. Polizisten durchkämmen die Menge und wollen sie zum Schweigen bringen, doch der Applaus breitet sich immer weiter aus. Ich habe es tatsächlich geschafft. Ich habe die Hoffnung auf eine andere Zukunft geweckt – und das allein ist die Opferung meiner eigenen Zukunft wert!