Einsendungen zum Schreib- und Bilderwettbewerb im Wissenschaftsjahr 2012 - Zukunftsprojekt Erde
Die letzten Tage waren düster. Über Allem lag die Gewissheit, dass die Flut bald einsetzen würde. Erneut einsetzen und erneut unzählige Landstücke mit sich in die schwarze Tiefe reißen. Es war eiskalt. Der dreckige Atem eines Jeden zeichnete sich wie blass grauer Nebel in der kalten Luft ab. Heizungen sowie mit Strom betriebene Heizlüfter waren schon vor einigen Monaten ausgefallen. Außer den Kerzen von Tracie gab es kein Licht in der schmuddeligen, kleinen Wohnung die uns zugeteilt worden war. Behutsam zündete Tracie sie jeden Morgen aufs Neue an, um sie am Abend wieder auszulöschen. Auch tagsüber hing die Dunkelheit so tief, dass man sich ohne Licht in den düsteren Fluren verlor. Ging man auf die Straße, stand man in hellerem Zwielicht. Tracie meinte, das sei alles wie ein furchtbarer, finsterer Traum, aus dem man einfach nicht erwachen konnte, obwohl man sich nichts sehnlicher wünschte. Trotz der rauen Umstände hatte meine kleine Schwester nicht an Schönheit und Naivität verloren. Die Leute aus unserem Häuserblock nannten sie den kleinen Engel und tatsächlich erhellte ihr goldblondes Haar das Treppenhaus kaum merklich. Ich dagegen war abgestumpft und müde. Das tägliche Aufstehen, obgleich es ohnehin keine Besserung geben würde, war mühsam und kostete mich sowohl meine Kräfte als auch meine Schönheit.
Am Morgen jeden Tages stapfte ich durch die schleimigen Massen grau braunen Schnees zu den Toren unseres Wohnviertels, um zusammen mit anderen Bewohnern die vielen tausend Menschen herein zu lassen, welche sich Schutz und einen Hauch Normalität erhofften. Je nach Gesundheit und Alter wurde den Flüchtlingen eine bestimmte Nummer zugeschrieben. Die Gesündesten, Schönsten und Jüngsten bekamen die höchsten Nummern und damit die besten Wohnungen. Schönheit war wichtig in dieser Zeit. Es tat gut zu sehen, dass die Kälte und die Umstände sie nicht allen genommen hatte. Gesunde Menschen konnten lange und gut arbeiten und sie benötigten keine medizinische Hilfe, von der wir ohnehin zu wenig hatten. Junge Menschen waren wichtig, da sie sowohl arbeitsfähig als auch gebärfähig waren. Schließlich sollte unsere Rasse erhalten bleiben und wir hatten keine Ahnung, wie viele Menschen bei der ersten Flut gestorben waren. Tracie und ich hatten Glück gehabt. Wir bewohnten ein Zimmer mit Sanitäranlagen ganz alleine. Andere mussten sich ihre Wohnung mit Kranken und Alten teilen. Dieses System war zwar grausam, aber es hielt uns im wahrsten Sinne des Wortes über Wasser. Mittags arbeitete ich in den warmen Gewächshäusern. Die Pflanzen und die Masse der Menschen in den winzigen Plastikhütten ließen das Kondenswasser in Bächen über die Innenscheiben laufen. Hier konnte ich meine blau gefrorenen Finger in warme Erde tauchen. Zwar waren die Bestandteile der Erde größtenteils künstlich hergestellt worden, aber die Mischung erinnerte mich immer noch an den weichen braunen Humus in den Blumentöpfen meiner Mutter. Das Gemüse, das hier wuchs, sah kümmerlich aus und im Grunde schmeckte alles gleich. Wir alle brauchten etwas zu essen, egal aus was genau es bestand. Abends half ich beim Abwasch. Die grünliche Flüssigkeit ätzte mir mit der Zeit die Hornhaut von den Fingern, aber ich überging das Brennen mit stillem Zähnezusammenbeißen. Wenn ich im schwärzesten Schwarz endlich die Zimmertür entriegelte, flog Tracie mir jeden Abend in die weit geöffneten Arme. In den Monaten nach der ersten Flut war sie um Jahre gealtert. Aus dem zarten kleinen Mädchen war eine junge Frau mit hohen Wangenknochen und taillenlangem Haar geworden. Bald würde die nächste Flut kommen. Wie viele Menschen diesmal sterben würden, konnten wir alle nur raten.
Zwei Tage, bevor die Flut endgültig einsetzte, stürzte sich Tracie wieder in meine Arme. Ihre sonst so eisigen Wangen waren heiß und für eine Schrecksekunde fürchtete ich, sie hätte Fieber. Als ich ihr Gesicht in meine Hände nahm, war es nass und geschwollen von Tränen. „Tracie, he Mäuschen warum weinst du denn?“. Ich kam mir selbst unendlich dumm vor. Sie hatte tausend Gründe zu weinen. Und doch hatte sie es bisher nicht getan. „Ich habe Angst Denver“, sie schluchzte erbärmlich an meiner Schulter. Ich drückte sie fester an mich und versuchte sie zu beruhigen. „Wovor denn Mäuschen? Etwa vor dem Tod? Der kriegt uns nicht, das weißt du doch!“. Es waren klägliche Versuche. „Ich habe keine Angst vor dem Tod, Denver. Ich habe Angst davor niemals richtig zu leben! Nie ein richtiges Weihnachtsfest feiern zu können, mich nie verlieben zu dürfen. Ich will leben!“. Ich war wie erstarrt. Auch ich hatte Angst davor. Ich hatte ein normales Leben geführt, hatte die Sonne gesehen, hatte Weihnachten gefeiert und war verliebt gewesen. Ich wusste wie unbeschreiblich schön diese Dinge waren. Meine Angst, all das könnte ich nie wieder erleben, war größer als die Angst vor dem Tod. Am nächsten Morgen zogen die Wolken auf.
Die Tage, an denen die Flut über uns hereinbrach, werde ich nie vergessen. Der Boden oder besser: der ganze Wohnblock bebte unter dem stetigen Aufprall der Wassermassen. Wir schlossen uns ein wie beim letzten Mal, nur dass unser Platz diesmal wesentlich geringer war. Wir erzählten uns Geschichten über das Tosen des Wassers hinweg und wir versuchten zu schlafen, aber die Angst, das Wasser könnte unser Zimmer erreichen war zu übermächtig. Uns war, als stöße das Wasser uns weg. Nicht den Wohnblock, sondern das ganze Land an sich. Wir wussten, dass es noch andere Länder mit Überlebenden gab, wir wussten, dass sie keine Namen mehr trugen, aber während wir zusammengekauert auf der schäbigen Matratze lagen, dachten wir, dass wir bald gegen das stoßen würden was einmal Afrika gewesen war. Wenn der Schlaf doch kurz Besitz von uns ergriff träumte Tracie von der Sonne und ich von der Wärme, die sie ja nie auf ihrer bloßen Haut gespürt hatte. Gefühlte Jahre nach der ersten Welle war es totenstill in dem kleinen Raum. Tracie schreckte auf und blinzelte zu mir hoch. Die Ruhe war erdrückend. Ich hatte das winzige, vergitterte Fenster mit einem alten Lappen verhangen. Langsam stand ich auf und streckte meine schmerzenden Glieder. Meine kleine Schwester trat leise neben mich. Wir hielten den Atem an. Meine Hand berührte den eisigen Stoff und zog ihn bei Seite. Licht strömte in das winzige Zimmer und blendete in unseren verschlafenen Augen. Der Himmel war weiß, weiß wie Schnee, aber zwischen dem strahlenden Vorhang blitzte die Sonne golden hervor. Mit einem Aufschrei der Erleichterung fielen wir einander in die Arme.
Später versammelten wir uns mit den anderen Überlebenden am Ende unserer Welt. Wo zuvor noch ein Strand, Straßen und ausgestorbene Läden gewesen waren, klaffte nun der Abgrund. Das Meer lag vollkommen still. Nur ein paar mickrige Wellen kräuselten sich auf der Oberfläche. Einige fingen leise an zu summen. Tracie pfiff leise eine Melodie aus unserer Vergangenheit. Wir zündeten Kerzen an und hinterließen sie am Abgrund. Ein neues Leben fing für uns an. Sicher, es würde nur bis zur nächsten Flut andauern, aber ich wollte das Beste daraus machen. Am Abend standen Tracie und ich alleine vor dem Beginn der unendlichen blauen Weite. Während Tracie leise staunend die Sterne betrachtete, tropfte eine Träne, glitzernd und hell, von meiner Nasenspitze ins starke, unbezwingbare Meer.