Was die Prämisse betrifft, so gehen die Meinungen auseinander. Manche Autoren finden, dass ein Manuskript eine Prämisse nicht braucht. Andere Autoren wiederum sind felsenfest davon überzeugt, dass die Prämisse einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob ein Roman bei den Lesern gut ankommt oder nicht. Zu denjenigen, die die Prämisse ausschlaggebend für den Erfolg eines Romans halten, zählt vor allem der Romanautor und Dozent für kreatives Schreiben James N. Frey.
*Aber was genau versteht man unter dem Begriff Prämisse?*
Laut James N. Frey ist eine Prämisse „eine Feststellung dessen, was mit den Figuren als Ergebnis des zentralen Konflikts der Geschichte passiert“.¹ Die Figuren befinden sich also im Anfangszustand und geraten im Verlauf der Handlung in eine vollkommen andere Situation. In Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway zum Beispiel lautet die Prämisse „Mut führt zur Erlösung“.²
Ein weiteres Beispiel wäre Effi Briest von Theodor Fontane. Wer den Klassiker in der Schule gerade liest oder gelesen hat, wird wissen, worum es geht. Wer das Werk noch nicht kennt, für den folgt nun eine kurze Zusammenfassung: Die lebenslustige Effi Briest wird im Alter von siebzehn Jahren mit dem wesentlich älteren Baron von Innstetten verheiratet. Aber in der neuen Umgebung und in der Ehe geht die junge Frau einfach nicht auf. Eines Tages lässt sie sich auf eine Affäre mit einem Offizier ein. Als publik wird, dass Effi ihren Ehemann betrogen hat, kehrt die Gesellschaft ihr den Rücken zu. Von allen verlassen lebt Effi bis zu ihrem viel zu frühen Tod einsam.
Die Prämisse von Effi Briest lautet Ehebruch führt zur sozialen Isolation.
Der Roman Vom Atmen unter Wasser von Lisa-Marie Dickreiter bestätigt die folgende Prämisse: Der gewaltsame Tod eines Familienmitglieds zerstört die Familie. Warum der Roman gute Kritiken erhalten hat, liegt daran, dass Lisa-Marie Dickreiter auf eine besondere Weise zeigt, wie die Familie zerbricht, nachdem die Tochter bzw. die Schwester ermordet worden ist. Lisa-Marie Dickreiter nimmt bewusst eine distanzierte Haltung ein, als würde sie die Figuren meist eher von „außen“ betrachten, als in ihren Kopf hineinblicken. Man erfährt nicht direkt, was die wichtigsten Figuren des Romans denken. Entscheidend sind die Handlungen, anhand derer der Leser selbst Schlüsse ziehen darf.
Reduziert man alle von James N. Frey genannten Prämissen sehr bekannter Werke auf das Wesentliche, so kann man eine schlichte Formel aufstellen: A führt zu B. Dabei ist A die Variable, die für eine Ursache wie z.B. für eine starke Emotion wie beispielsweise Liebe, Hass oder Enttäuschung steht und für Konflikte sorgt. Dagegen ist B die Lösung oder das Resultat der Handlungen der Akteure. Aber das ist nur ein vereinfachter Versuch, die Prämisse bildlich darzustellen. Natürlich kann eine Prämisse auch beispielsweise folgendermaßen lauten: Selbst Existenz-bedrohende Situationen vermögen nicht das familiäre Band zu zerstören. Damit will ich ausdrücken, dass nicht jede Prämisse A führt zu B lauten muss. Fakt ist, dass eine klare Veränderung eintritt.
James N. Frey weist darauf hin, dass die Prämisse in einer fiktionalen Arbeit im Gegensatz zu der eines Sachbuchs keineswegs den Anspruch erhebt, immer und überall gültig zu sein. Wenn also ein Autor in seinem Manuskript beweist, dass man sich ins Unglück stürzt, wenn man anderen vertraut, weil sein Protagonist z.B. von Freunden im Krieg verraten wird und stirbt, so heißt es nicht, dass es sich zu jedem Zeitpunkt unabhängig vom Ort des Geschehens bewahrheiten wird. Denn bereits ein anderer Autor kann den Leser genau vom Gegenteil überzeugen, nämlich davon, dass Vertrauen Leben rettet, weil die Figuren fest zusammenhalten. Doch wenn der Leser zu jenem Buch mit der Prämisse „Vertrauen in lebensgefährlichen Situationen führt zum Tod“ greift, dann besteht die Aufgabe des Autors darin, genau diese Prämisse zu beweisen. Schließlich hat er sein Manuskript mit diesem Gedanken verfasst. Und die Prämisse entspricht der Wahrheit – sofern man davon sprechen kann. Allerdings nur bezogen auf genau diesen Roman mit einem essentiellen Konflikt und exakt diesen Figuren, für die es einen bestimmten Hintergrund gibt und die wegen bestimmter Wünsche und Ängste agieren. Die Prämisse ist „nur wahr im Hinblick auf die besondere Situation des Romans“.³
Eine Prämisse ist die Kernaussage eines Romans. Jeder erfolgreiche und populäre Roman hat eine Prämisse, meint James N. Frey. Erfolgreich ist ein Roman vor allem deswegen, weil es dem Autor gelingt, durch die Handlung der Akteure Gründe zu liefern, die die im Kopf formulierte Prämisse beweisen.
*Viele Prämissen – aber nur eine zählt*
Jeder Roman versucht nur eine einzige Prämisse zu beweisen – so James N. Frey. Dieser Behauptung kann man widersprechen. Wenn man nämlich über den ein oder anderen Roman nachdenkt, wird man zweifellos zu dem Ergebnis kommen, dass ein gelungener Roman mehrere Prämissen enthält. Man denke da zum Beispiel an The Rise of Silas Lapham von William D. Howell. Auf dieses Werk griff ich bereits im Kapitel zurück, in dem es um interessante Romanfiguren geht.
In The Rise of Silas Lapham kommen der Protagonist Silas Lapham und somit auch seine Familie durch eine Geschäftsidee zu großem Reichtum. Aber nicht nur harte Arbeit und unternehmerisches Geschick bringen der Familie Lapham viel Geld ein, sondern auch Silas' skrupelloses Vorgehen. Von einem Tag auf den anderen in den Kreis der Schönen und Reichen katapultiert, versuchen die Laphams sich in die Gesellschaft zu integrieren. Obwohl es tatsächlich Bürger gibt, die die Familie willkommen heißen, begegnet der Großteil den Neureichen argwöhnisch, weil sie im Gegensatz zur „Old-Money“-Gesellschaft nicht dank Erbschaft an eine große Summe Geld gekommen sind (und somit nicht seit Generationen damit vertraut sind, was z.B. Stil und Gepflogenheit angeht), sondern durch Arbeit. Als die Familie Lapham letzten Endes verarmt, schließen die Reichen sie aus dem elitären Kreis aus. Aber in dieser Krise ändert sich Silas Lapham; er macht seine Fehler wieder gut und wird ein besserer Mensch.
Möchte der Autor nun zeigen, dass die Gegensätze zwischen jenen, die seit Generationen im Besitz von Wertgegenständen und Ländereien sind („Old Money“), und denjenigen, die innerhalb relativ kurzer Zeit durch Fleiß und Schweiß reich geworden sind („New Money“), groß sind? - Gewiss. Aber das ist nur eine von mehreren Thesen. In erster Linie jedoch beweist The Rise of Silas Lapham, dass der Protagonist erst dann an wahrer Größe gewinnt, als er sozusagen ganz unten ist. Als Silas Lapham alles verliert, was er selbst errichtet und worin er immens Zeit investiert hat, erkennt er, dass das Materielle keinen Wert hat. Endlich geschieht es, dass er persönlich und „moralisch“ reift. Trotz mehrerer Prämissen kann man also sagen, dass die Prämisse von The Rise of Silas Lapham von William D. Howell folgendermaßen lautet: Löst man sich vom Materiellen, so erkennt man, was wirklich zählt.
Selbstverständlich verfügen alle Episoden in einem Roman über ihre eigene Prämisse, unabhängig davon, wie viele Seiten auch immer sie beanspruchen. Dem stimmt James N. Frey zu. Doch in seinem Roman konzentriert sich der Autor auf eine einzige; auf die zentrale.
Wie gesagt, schwört James N. Frey auf die Prämisse. Wenn man ordentliche Argumente vorbringt, die zeigen, dass die Prämisse im eigenen Manuskript der Wahrheit entspricht, darf man sich des Sieges sicher sein. Was diejenigen Autoren betrifft, die sich keine Gedanken um die Prämisse machen, dennoch zahllose Leser weltweit zu ihren Fans zählen, so meint James N. Frey, dass genau diese Autoren intuitiv längst Prämissen ausformuliert haben und diese in ihrem Manuskript erfolgreich beweisen. Nur geschieht das in ihren Fällen unbewusst.
¹ Frey, James N., Wie man einen verdammt guten Roman schreibt, 1993, Hermann-Josef Emons Verlag, S. 74
² ebd. S. 74
³ ebd. S. 74