Für die Exkursion am 28. August 2012 hatten sich die Mitglieder unserer Fahrradgruppe für Senioren in Nürnberg lohnende Ziele gesetzt: Erlangen mit Besichtigung der neu renovierten Orangerie und des Botanischen Gartens im Schlosspark und danach den Dechsendorfer Weiher mit seinem Freizeitgelände. Wir wollten uns dazu um 9.30 Uhr unter der Theodor-Heuss-Brücke im Westen der Stadt treffen.
Mein Anfahrtsweg von Langwasser ist mit elf Kilometern der längste aller Teilnehmer. Da ich die Dauer der Anfahrt wegen der Verkehrsverhältnisse und des Aufenthalts an Ampeln schlecht schätzen kann, hatte ich vorsichtshalber reichlich Zeit dafür eingeplant und erscheine bereits zwanzig Minuten vor dem vereinbarten Termin am Treffpunkt. Fast fünfzehn Minuten warte ich dort allein auf die anderen.
Die Theodor-Heuss-Brücke ist ein gewaltiges Bauwerk aus grauem Beton mit vier Fahrstreifen, getragen von mächtigen Pfeilern. Als ein Teil des mittleren Rings um Nürnberg überspannt sie den gesamten Pegnitzgrund in einer Weite von fast zweihundert Metern. Ihre etwa 30 Meter breite Decke kann vielen Menschen Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten. Während der guten Jahreszeit findet sich dort in fast jeder Nacht eine große Zahl von Menschen ein, um zu trinken und Musik zu hören. Manchmal ist dies offiziell organisiert, wie etwa beim jährlichen Brückenfestival, meistens kommen die Besucher ohne einen besonderen Anlass. Viele Anwohner beschweren sich über den Lärm und den Müll, der bei diesen nächtlichen Treffen in fast jeder Sommernacht anfällt; die Polizei kann dagegen wenig tun.
Als ich mit dem Fahrrad unter der Brücke eintreffe, ist fast niemand zu sehen. Ein einzelner Bursche spielt in der Ferne allein mit einem Ball. Einige leere Flaschen und anderer Müll vom letzten Wochenende liegen noch herum. Groteske Graffiti mit grellen Farben verzieren die klobigen Pfeiler. Unter der Brücke ist es auch am Morgen bei hellem Sonnenschein noch düster.
Am Boden unter der Brücke sehe ich verschiedene Einrichtungen für sportliche Betätigungen: unter anderem zwei an Gestellen angebrachte Körbe für Basketball und ein Netz in der Art einer Hängematte, dessen Zweck für mich ein Rätsel bleibt. Um die Zeit bis zum Eintreffen der anderen Mitglieder der Fahrradgruppe zu überbrücken, entschließe ich mich aus einer Laune heraus, mich in das Netz zu legen und dort zu warten. Als ich mich niederlasse, bemerke ich, dass die Seile des Netzes aus braunem Sisal oder einem anderen pflanzlichen Stoff bestehen und sehr hart sind. Für mich recht unangenehm. Mein Fahrrad ist neben dem Netz abgestellt.
Plötzlich kommt der junge Mann näher, den ich bisher nur in einiger Entfernung beobachtet hatte. Wie ich erst jetzt erkenne, ist es ein Farbiger mit tiefschwarzer Haut, schlank, jedoch muskulös und kräftig, etwa 16 bis 18 Jahre alt. Seine Kleidung besteht aus abgeschabten und zerrissenen Jeans, einem schmutzigen T-Shirt und aus abgetretenen Turnschuhen.
In meiner fast horizontalen Lage in der Matte fühle ich mich dem fremden Mann gegenüber ziemlich hilflos. Er spricht mich an. Mit eindringlicher, aber nicht unfreundlicher Stimme sagt der Bursche zu mir: „Entschuldige, dass ich dich etwas frage. Hast du eine Zigarette für mich?“ Als ich dies verneine und darauf hinweise, dass ich leider nicht rauche, erwidert er vorwurfsvoll: „Mir tut dies viel mehr leid als dir!“ Dann entfernt er sich ein Stück und umkreist mich mehrmals, wobei er mit seinem Ball spielt.
Mir erscheint die Situation unsicher und sogar gefährlich. Wir sind ziemlich weit von dem Fuß- und Fahrradweg unter der Brücke entfernt, auf dem nur selten ein Fahrradfahrer vorbei fährt. Einen Angriff des anderen auf mich würde kaum jemand bemerken und mir gewiss niemand zu Hilfe kommen. Deshalb erhebe ich mich aus der Matte und gehe mit meinem Fahrrad langsam auf den Weg unter der Brücke zu.
Wieder kommt der junge Mann auf mich zu und sagt ziemlich aggressiv zu mir: „Was denkst du?“ Überrascht überlege ich, wie ich darauf reagieren soll. Was will er eigentlich von mir? Seine Frage kann man fast philosophisch auffassen. Ausweichend bemerke ich, dass alles o. K. sei. Seine Antwort ist heftig und laut: „Was meinst du damit? Bist du o. K.? Bin ich o. K.? Meinst du damit, bei mir ist alles in Ordnung?“ Mir fällt nichts anderes ein als zu sagen, ich wäre mit der gegenwärtigen Situation zufrieden – was natürlich nicht stimmt. Um räumliche Distanz zu ihm zu schaffen, gehe ich um mein Fahrrad herum. Er sieht mich an, wägt – wie ich meine – die Chancen und Risiken der Lage für seine Absichten ab, und wendet sich von mir ab. In einigem Abstand begleitet er mich bis zu dem Weg und fährt fort, mit dem Ball zu spielen. Dort bleibt er in meiner Nähe.
Mit Erleichterung begrüße ich den ersten anderen Teilnehmer unserer Fahrradgruppe, der nach etwa fünf Minuten eintrifft. Kurz danach kommen weitere Mitglieder dazu. Ich bin in Sicherheit.
Zu meinem Erstaunen sehe ich, wie der schwarze Junge näher kommt und die einzelnen Radler der Gruppe anspricht: er bettelt sie um einige Cents an. Einige von uns geben ihm kleinere Münzen, andere verweigern sich. In seiner Hand sehe ich Münzen im Gesamtwert von etwa zwei bis drei Euro. Eine resolute Dame, früher Lehrerin, fragt ihn, wofür er das Geld brauche. Seine Antwort: „Für Vino!“. Die Frau beginnt zu schimpfen: „Wenn ich das vorher gewusst hätte, hättest du kein Geld von mir bekommen. Du willst dich doch nur zu dröhnen. Kauf dir lieber eine Breze oder eine Wurstsemmel. Das wäre etwas Gescheites.“
Nach diesem Zwischenspiel fahren wir gemeinsam ab und beginnen unsere Fahrradtour nach Erlangen durch die grünen Auen an der Pegnitz und an der Regnitz, im Licht der Vormittagssonne.
Später überlege ich, was ich nach dem zufälligen Treffen mit dem jungen Farbigen empfinde. Sicherlich fühlte ich mich durch ihn herausgefordert und bedroht. Aber das ist jetzt vorbei. Außerdem hat er mir in Wirklichkeit nichts zuleide getan. Vielleicht irre ich mich, wenn ich ihm böse Absichten bei unserer Begegnung unterstelle.
Andererseits erkenne ich an, dass der Bursche auch positive Seiten besitzt. Bei der Durchsetzung seiner Interessen stellt er sich auf seine Gesprächspartner ein und geht recht geschickt und erfolgreich vor. Er kann sich in korrektem Deutsch fast ohne Akzent ausdrücken, ist schlagfertig und verfügt über Wortwitz. Meine dümmliche Antwort auf die Frage, was ich denke, zerpflückte er auf eine ähnliche Weise, wie Sokrates bei der Widerlegung der Argumente seiner Gesprächspartner in den überlieferten Dialogen zu tun pflegte. Seine Erwiderung „Für Vino!“ auf die Frage der Lehrerin bewerte ich als bewusste Provokation und zugleich als einen Scherz.
Vor allem aber sehe ich, dass er gefährdet ist und sich auf einer abschüssigen Bahn befindet, die ihn in den Abgrund führen kann. Wenn er am frühen Vormittag allein unter der Brücke herum lungert und andere Menschen anbettelt, deutet dies auf widrige Verhältnisse und gravierende Probleme bei ihm selbst und in seinem sozialen Umfeld hin. Sicherlich erfuhr er in seinem bisherigen Leben viel Schlimmes.
Wer kann ihm helfen? Zunächst seine Angehörigen, seine Familie und seine Freunde, wenn er denn solche besitzt. Danach staatliche und kirchliche Stellen wie Jugendamt und Diakonie, die über erfahrene Fachkräfte und die nötigen finanziellen Mittel verfügen. Hoffentlich übernimmt irgendjemand Verantwortung für ihn.
Für mich selbst besteht keine Möglichkeit, diesem fremden Menschen mit Rat und Tat unter die Arme zu greifen. In meinem Lebensalter und bei unserer unterschiedlichen kulturellen Prägung könnte ich ihn überhaupt nicht erreichen. Mit Scham und Trauer gestehe ich mir ein, dass ich dem gefährdeten Jungen, einem Mitmenschen und Bruder, nicht beistehen kann.