Liebe Lucia!
Ich gratuliere Dir ganz herzlich zu Deinem vierten Geburtstag. Du kannst noch nicht lesen, aber Deine Eltern werden Dir den Brief vorlesen, zumindest teilweise. Und sie werden ihn für Dich aufheben, damit Du ihn später, wenn Du alt genug bist, selbst lesen und verstehen kannst.
Am selben Tag werde ich meinen 65. Geburtstag feiern. Uns trennen 61 Jahre und etwa 600 Kilometer. Du lebst an der Ostsee, ich wohne im Rheinland.
Geburtstage sind Zeiten des Rückblicks und des Vorausschauens. Während ich auf mein bisheriges Leben zurückschaue und die wichtigsten Stationen Revue passieren lasse, liegt Dein Leben noch wie ein Buch mit unbeschriebenen Seiten vor Dir. Wie anders wird Dein Leben verlaufen im Vergleich zu dem, das ich bisher geführt habe!
Nur schwach kann ich mich an die Zeit erinnern, in der ich so alt war, wie Du jetzt bist. Im Jahr 1952 zog ich im Alter von vier Jahren mit meinen Eltern und meinem Bruder aus einer noch vom Krieg zerstörten Zwei-Zimmer-Wohnung in eine Drei-Zimmer-Wohnung.
Du kannst Dir wahrscheinlich gar nicht vorstellen, dass mein Bruder und ich kein eigenes Zimmer hatten, unsere Betten standen im Schlafzimmer unserer Eltern. Dass wir eine Wohnung ohne Badezimmer und ohne eigene Toilette hatten, würde Dich auch wundern. Es gab keine Heizung, sondern einen Kohleherd in der Küche und einen Ofen im Wohnzimmer. Das Schlafzimmer wurde nicht geheizt, dort blühten im Winter die Eisblumen am Fenster.
Statt eines Gartens hatten wir einen kleinen Hinterhof mit einem Platz zum Trocknen der Wäsche und einer Teppichstange. Hier standen auch die Mülltonnen. Möglichkeiten zum Spielen gab es dort kaum, dafür spielten wir auf der Straße. Die Bürgersteige waren breit, es fuhren damals nur wenige Autos. Auf den ganz ruhigen Straßen konnte man wunderbar Rollschuhlaufen. Die Hauswände eigneten sich für verschiedene Ballspiele, die großen unregelmäßigen Pflastersteine waren beliebt für Hüpfspiele wie Himmel/Hölle. Oft hatten wir ein Stoffsäckchen mit Murmeln bei uns. Rund um die Straßenbäume machten wir mit dem Schuhabsatz kleine Vertiefungen in die verfestigte Erde, um mit den Kugeln aus Glas oder Ton zu spielen. Spannend für uns Kinder waren die Trümmergrundstücke in der Straße und auch die verwilderten Gärten. Hier stellen wir uns vor, in einem Urwald zu sein.
In einen Kindergarten bin ich nicht gegangen; ich kannte, bis ich zur Schule kam, nur die Kinder von der Straße. Du besuchst seit über einem Jahr einen Kindergarten. Die Erzieherinnen spielen, basteln, singen und turnen mit euch. Du gehst schon mühelos mit einem Tablet um – was mir nur mit viel Übung gelingt. Da könntest Du mir einiges zeigen.
Bevor Du geboren wurdest, kauften Deine Eltern ein Haus mit Garten. Damals gab es nur Deine ältere Schwester. Ihr richteten Deine Eltern liebevoll ein Zimmer in Rosa ein. Etwas später wurde Dein Bruder geboren, auch er bekam ein eigenes Zimmer. Als Du Dich ankündigtest, wurde es eng: Ein weiteres Kinderzimmer war nicht vorhanden. Also wurde das Haus mit großem Aufwand umgebaut, so dass es auch für Dich einen Raum gab.
Außer Euren eigenen Zimmern habt Ihr noch ein Spielzimmer für Eure vielen Spielsachen sowie einen Wintergarten, in dem die Geburtstagsfeiern stattfinden. Jede Geburtstagsfeier hat ein Motto – oft nach einer Märchenfigur oder nach einem Tier aus einem Bilderbuch. Alles ist dann aufeinander abgestimmt: die Dekoration, die Torte, die Spiele und andere Beschäftigungen.
Meine Geburtstage als Kind wurden auch gefeiert. Meine Mutter backte einen Kuchen und ich lud ein paar Freundinnen ein. Manchmal nähte mir meine Mutter auch ein Geburtstagskleid.
Ich erinnere mich an meinen ersten Schultag, das Abitur, den Anfang und den Abschluss des Studiums, unsere Heirat, den Beginn meiner Berufstätigkeit als Lehrerin, die Geburt unserer Tochter – Deiner Mutter. Dann musste ich Kind, Beruf und Haushalt unter einen Hut bringen, was nicht immer leicht war. Als Deutschlehrerin hatte ich viel zu korrigieren. Gut war, dass mein Mann damals oft das Einkaufen am Wochenende übernahm und auch das Kochen. Während meiner Unterrichtstunden wurde unsere Tochter in einem privaten Kindergarten für Lehrerkinder betreut.
Viele Jahre später feierten wir die Hochzeit Deiner Eltern. Wie haben wir uns gefreut, als sich unser erstes Enkelkind ankündigte, dann das zweite und schließlich Du.
Du kommst in zwei Jahren in die Schule. Wir, Deine Großeltern, planen, Dich bei diesem Schritt zu begleiten. Was wirst Du in zehn Jahren tun? Ich stelle mir vor, dass Du aufs Gymnasium gehst und Dich mit Mathematik und Physik herumschlagen musst. Vielleicht spielst Du dann ein Instrument. Den Anfang hast Du ja schon mit der Blockflöte gemacht, auch wenn es bis jetzt erst zwei Töne sind. Wie ich Dich kenne, wirst Du ein munterer Teenager sein, der seine Freiheit erprobt.
Ich hoffe, auch in zehn Jahren noch wandern und reisen zu können, weiterhin Freundinnen und Freunde zu haben, in Kunstausstellungen zu gehen Bücher zu lesen und Geschichten zu schreiben.
Wie wird es in zwanzig Jahren aussehen? Mit vierundzwanzig wirst Du vielleicht noch studieren, Du wirst erwachsen sein und Dein eigenes Leben leben.
Ich denke nicht gern an mein eigenes höheres Alter. Wo werde ich in zwanzig Jahren sein? Werde ich noch mit meinem Mann zusammen wohnen? Werde ich allein in einem Haus mit Garten leben - wie heute meine 88jährige Mutter? Vielleicht bin ich dann in einem Altenheim oder in einem Pflegeheim.
Für mich ist es wichtig, dass die Generationen miteinander im Gespräch bleiben, dass man sich nicht abschottet. Aber wie man auf eine gute und verträgliche Weise miteinander leben kann – dafür weiß ich keine Lösung. Auch habe ich in meiner eigenen Familie keine Vorbilder.
Vielleicht sind die Mehrgenerationenhäuser eine Möglichkeit für die Zukunft. Vor einiger Zeit habe ich eine ältere Dame, die ich aus unserer Nachbarschaft kannte, in einem solchen Haus besucht. Sie fühlt sich sehr glücklich dort. Sie erzählte, dass dort jeder seine eigene Wohnung habe, man sich gegenseitig helfe und aufeinander Rücksicht nehme, beispielsweise bei der Lautstärke von Musik oder vom Fernsehgerät. Man treffe sich regelmäßig im Gemeinschaftsraum, um über anstehende Probleme zu reden und um Lösungen zu finden. Oft würde man auch mit anderen gemeinsam etwas unternehmen.
Manchmal wünsche ich mir die Zeiten der Großfamilie mit mehreren Generationen unter einem Dach zurück. Besonders in den bäuerlichen Betrieben hatten sie sich noch relativ lange erhalten. Oft funktionierte das Modell des gegenseitigen Helfens und der gegenseitigen Fürsorge: Wenn die Mutter in der Landwirtschaft arbeitete, konnte die Großmutter die Betreuung der Kinder übernehmen. Man kümmerte sich um die alten Menschen, die Kranken wurden im Hause gepflegt.
Kinderbetreuung ist bei uns nach wie vor ein Problem für die berufstätigen Mütter. Aber die Zeiten der Mehrgenerationen-Familie sind vorbei, die jungen Leute finden nicht mehr unbedingt am Wohnort der Eltern eine Arbeitsstelle. Viele haben keine andere Wahl, als eine weit entfernte Stelle anzunehmen oder ins Ausland zu gehen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Du auch eines Tages hinaus in die Welt ziehen wirst. Wie und wo wir in Zukunft leben werden – wir sollten in gutem Kontakt miteinander bleiben.
Dir wünsche ich auf Deinem Lebensweg viele glückliche Jahre.
Deine Oma