Wenn ich jemanden erzählte, dass Oma und Opa bei mir gewohnt haben, dann bekam ich entweder einen erstaunten (gelegentlich auch ein entsetzten) Blick zugeworfen, oder ein vor Mitleid triefenden Satz a lá „ bald bist du ja 18 und dann kannst du ganz schnell ausziehen“.
In solchen Situationen denke ich oft mit gemischten Gefühlen an die Zeit mit meinen Großeltern zurück und oft verstehe ich den entsetzten Blick meiner Freunde.
Mit 13 war ich ja auch fest davon überzeugt, dass Mehrgenerationenhäuser von einer höheren Macht erfunden worden sind, um aufmüpfigen Teenagern die Freude am Leben zu nehmen. Nämlich als ich (damals 13 Jahre jung) meinen „ersten Freund“ mit nachhause nehmen wollte, löste das bei meinen Großeltern ein waschechten Skandal aus: Mein Opa schrie durch das ganze Haus: "Einen Freund! Ich glaube es hackt! Den kannst du auch nach der Lehre haben! Also zu unserer damaligen Zeit hätte es so was niemals gegeben, „Joachim (mein Vater) mach doch etwas dagegen“. Während mein Opa mir androhte, kein Wort mit mir zu reden (was zu meinem Leidwesen er ziemlich oft tat), saß meine Oma seelenruhig in ihrem Sessel und meinte zu mir „Bevor du ein Freund haben kannst, solltest du mal vernünftig kochen lernen, deine Mutter bringt dir anscheinend gar nichts bei“. Dies führte dann anschließend zu einer Diskussion zwischen meiner Mutter und meiner Oma über Emanzipierung und Rollenverteilung im Haushalt und im Allgemeinen. Ein weiterer Streitpunkt war natürlich die heutige Mode. Meine Oma schüttelte immer den Kopf, wenn ich mit einer verblichenen Jeans oder noch schlimmer mit Löchern in der Hose zur Schule ging. Sie würde niemals Geld für Hose ausgeben, die schon vor dem Tragen verblichen und durch Löcher gekennzeichnet sind. Auch das Tragen von Jogginghosen missfiel meiner Oma deutlich. Sie bezeichnete „diesen Fetzen Stoff“ als „geschmacklos“.
Zudem raubten mir meine Großeltern den letzten Nerv, wenn es um das Thema Arbeitsmoral ging. Mein Aufgabenfeld beschränkt sich nämlich grob zusammen gefasst aus den Teilen die Spülmaschine aus und einzuräumen, Wäsche zu sortieren, den Müll raus zubringen und den Tisch einzudecken. Wenn wir bei diesem Thema angelangt sind, bekomme ich dann einen strafenden Blick inklusive einer meiner Lieblingssätze„ In meiner Jugend konnte ich schon“ entgegengebracht. „In deinem Alter konnte ich schon für mindestens 12 Gäste kochen“ oder „In deinem Alter habe ich schon den Haushalt fast alleine geführt“ waren die gängigsten Sätze. Aber es gab neben den unzähligen kleinen Streitigkeiten mit meinen Großeltern auch unzählige schöne Momente. Als mein jüngerer Bruder und ich noch klein waren, haben wir immer im Winter unten bei unseren Großeltern auf dem Sofa unter einer flauschigen Decke gesessen und haben Plätzchen gegessen. Nebenbei haben wir uns die Serie Heidi mit viel Freude, angeschaut. Noch heute verbinde ich den Geruch von Plätzchen mit der Sendung Heidi. Besonders schön war es auch, wenn mein Opa den Traktor anmachte uns auf seinen Schoß setze und wir das Lenkrad drehen durften, während er fuhr. Das fanden wir beide total aufregend und waren so stolz, das man uns so etwas anvertraute. Immer wenn der Schnee Zentimeter hoch auf unserer Wiese neben dem Haus lag, spannte mein Opa hinter dem Traktor zwei Schlitten und ist dann auf der Wiese im Kreis gefahren.
Auch als wir älter wurden, waren unsere Großeltern bei jeden großen und kleinen Problem für uns da. Wenn ich mit meinem Bewegungsdrang meinen Eltern sichtlich auf die Nerven gegangen bin, hat sich meine Oma ihren Stock geschnappt und ist mit mir ein langes Stück spazieren gegangen. Oder als sich immer mehr heraus kristallisierte, dass Mathematik niemals mein Lieblingsfach werden würde, hat mein Opa mit mir abends 1 oder 2 Stunden Kopfrechnen geübt.
Immer wenn meine Eltern arbeiten waren und wir aber schon von der Schule kamen, hat uns Oma ein deftiges Mittagessen gekocht und einen süßen Nachtisch hinterher gezaubert.
Umso älter wir wurden, umso mehr haben uns unsere Großeltern angefangen von ihrem Leben zu erzählen.
Sie haben uns spannende Sachen über unser Dorf erzählt, die uns immer wieder staunen ließen. Zum Beispiel, wer das erste Auto in unserm Dorf hatte und wie die Leute diesen Mann bewundert haben. Auch von der Familie mit dem ersten Telefon hat mein Opa mit Leidenschaft erzählt. Wenn wir an besonderen Häusern in unserm Dorf und Nachbardorf vorbei gefahren sind, hat mein Opa mir immer erzählt, wer das Haus gebaut hat oder wer zu seiner Zeit in diesem Gebäude gewohnt hat. Deswegen weiß ich auch das in dem schönsten Haus ein Arzt wohnte, der bei der Dorfbevölkerung hohes Ansehen genoss.
Als ich ungefähr 10 Jahre alt war, hat mein Opa auch von seinen Kriegserlebnissen angefangen zu erzählen. Durch meinen Opa erfuhr ich auch, wie grausam der Krieg war. Denn als Zeitzeuge erzählt man über den Krieg mit viel mehr Emotionen, als es Geschichtsbücher jemals gekonnt hätten Dieses Wissen sorgte Jahre später dann für gute Noten im Geschichtsunterricht. Aber Mehrgenerationenhäuser haben nicht nur den Sinn, von anderen zu lernen, sondern auch auf andere Rücksicht zu nehmen. Schließlich bekommt man ja auch mit, dass die Großeltern immer älter werden. Man sieht, wie sie schwächer werden. Dadurch lernte ich, dass es wichtig ist, aufeinander Rücksicht zunehmen. Ich hab immer mehr Aufgaben übernommen, um meine Großeltern zu entlasten. Meinem Opa habe ich die letzen Jahre immer die Haare gewaschen, weil er sein Arm nicht mehr heben konnte. Man bekommt mit, dass meinem Opa dich leichtesten Sachen, wie eine Jacke anzuziehen, Mühe bereitet. Das Älter werden von Menschen sorgt nicht nur bei den Betroffenen für Angst und Wut, sondern auch bei dem näheren Umfeld.
Ich finde Mehrgenertionenhäuser sind eine der tollsten Erfindungen überhaupt. Man lernt von einander und entwickelt Verständnis für die andere Generation. Wenn ich mich jetzt entscheiden könnte, ob ich wieder mit meinen Großeltern zusammen leben möchte, würde ich keine Sekunde zögern und ja sagen.