Schwarzer Pfeffer und Curcuma

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

Die Curcuma-Dose rollt schräg über den Tisch. Bevor sie herunterfällt, fange ich sie auf. Der Tomatensaft, verrührt mit einem Löffel, dreht sich im Glas. Ich gebe etwas schwarzen Pfeffer und viel Curcuma dazu. Mit dem Stoff „Piperin“ im Pfeffer kann der Körper tausendmal mehr Curcumin aufnehmen. Es ist der Krebskiller aus dem indischen Kurkuma-Gewürz. Ich denke, diese Mischung aus phytochemischen Wirkstoffen in bestimmten Nahrungsmitteln hat neben der Wissenschaft dazu beigetragen, dass ich bis heute nicht an Krebs erkrankt bin.

Es ist Freitagabend, mein letzter Arbeitstag. Endlich pensioniert. Mein Sohn Eugen kommt in die Küche. “Hallo Papa, war heute wirklich dein letzter Arbeitstag?” “Ja, Eugen, hab ja lange genug darauf gewartet.”

Ich bin 80 und fertig mit den Nerven, der Arbeit und der Schule. Was vor 60 Jahren begann (Wunderkind macht zweites Staatsexamen mit 20), fand heute morgen seinen Abschluss. Der Staat lässt mich gehen. Ich habe mir meine Rente verdient und dabei geholfen, durch späteren Renteneintritt den demografischen Wandel zu bewältigen.

Nun werde ich meine Rente genießen. Fragt sich nur wie lange. Zwar haben Wissenschaftler und Ärzte die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern auf 128 angehoben, aber ich bin müde geworden. Zum “Burn-Out” kam irgendwann der “Fade-Out” hinzu. Man arbeitet und wird allmählich schwächer und schlapper bis zur Durchsichtigkeit.

Ich blicke auf Eugen hinunter. Er ist auch ein Wunderkind; mit 15 steht er kurz vor dem Abitur. Mit Hilfe der Gehirnforschung verwirklichten Wissenschaftler ihren Traum, Kinder derart zu trainieren, dass sie immer früher ihre Schulabschlüsse schaffen. Eugen ist ein typischer G5-Schüler. Sein Körper ist mittelgroß, schlank und muskolös. Die Gesichtszüge sind ebenmäßig und fein geschnitten. Mein Sohn wurde im Reagenzglas gezeugt. Er weiß das. Seine Mutter und ich wünschten uns damals einen Sohn ohne genetische Defekte.

Zwei Wochen später sucht mich Eugen im Schlafzimmer. Noch immer genieße ich es, am Morgen lange schlafen zu können. Mittags lege ich mich dann meist noch einmal hin. Eugen ist nervös und seine Stimme klingt gereizt. “Wie kommt es eigentlich, dass wir uns so ähnlich sehen?” “Das ist normal, mein Sohn, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.” Eugen ist mir tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten. Auf Jugendfotos sehe ich genau so aus wie er heute. Ich schließe die Augen wieder.

Eugens Ton wird schärfer. “Mir sind heute Omas Tagebücher in die Hände gefallen”. Meine Mutter ist vor drei Jahren gestorben. “Sie schreibt: Ich bin dein Clone.” Ich öffne meine Augen nicht. “Stimmt das?” fragt er erregt. “Bin ich dein Clone?”

Er weiß Bescheid. Ich schweige. Was soll ich sagen? Dass er meine Kopie ist? Eugen nickt “Es stimmt also. Ich bin dein Clone.” Nun schaue ich ihn an. Viele Augenblicke lang löst er seinen Blick nicht von mir. Ich halte seinem Blick stand und beginne zu schwitzen. Dann dreht er sich um und läuft aus dem Zimmer.

Als ich später in die Küche gehe, steht auf unserem schwarzen Brett an der Wand: “Ich bin dein Clone!” Ich lasse den Satz stehen. Am folgenden Tag lese ich darunter: “Ich bin dein Clown!”
Eugen und ich gehen uns sechs Wochen lang aus dem Weg. Wortlos laufen wir aneinander vorbei. Nach und nach wechseln wir dann aber wieder ein paar Worte. Schließlich kommt es zu einem längeren Gespräch:
“Wer bin ich?” Eugen setzt sich zu mir an den Küchentisch. “Bin ich du? Oder bin ich nur genauso wie du?” “Eugen, unsere Körper sind identisch, genauer gesagt, genetisch gleich, aber nicht unser Ich, unser Geist. Du bist eine eigenständige Person.”

Wir interessieren uns beide für Astrologie. “Schau, unser Geburtsdatum und Geburtsort sind völlig unterschiedlich. Du weißt, dass darum unsere Horoskope verschieden sind.” Eineiige Zwillinge ähneln sich im astrologischen Sinn auf psychologischer und seelischer Ebene sehr. Ihre Lebensläufe können aber voneinander abweichen. Die psychologischen Unterschiede zwischen Eugen und mir sind viel bedeutender als bei eineiigen Zwillingen. “Wir sind genetische aber nicht seelische Zwillinge” sage ich.

“Ein eineiiger Zwilling ist dem anderen Zwilling ähnlicher als wir. OK. Aber der eine Zwilling ist nicht Clone des anderen. Ich aber bin deine körperliche Kopie” bringt Eugen es auf den Punkt. “Warum wolltest du das damals so?”

Ich hatte mich damals ohne langes Nachdenken fürs Klonen entschieden. Die neue Technik des Menschenklonens zu nutzen, fand ich spannend. Viele Eltern machten das und es war ganz einfach gewesen: aus einer meiner Körperzellen gewannen die Ärzte den Kern. Zugleich hatten sie aus einer Eizelle meiner Frau den Zellkern entfernt und durch den Kern meiner Körperzelle ersetzt. Die Erbanlagen in der Eihülle wechselten auf diese Weise wieder in den embryonalen Zustand; das Programm der Körperzelle wurde auf den Anfang zurückgestellt. Die vormals spezialisierte Körperzelle konnte nun wieder jegliche Aufgabe übernehmen. Die Eizelle meiner Frau teilte sich und bildete einen geklonten Embryo. Dieses Clone-Konstrukt übertrug man in meine Frau. Sie trug das Kind, unseren Sohn, aus. Meine Frau starb kurz nach Eugens Geburt bei einem Verkehrsunfall.

Als ich am selben Tag nach dem Mittagsschlaf aufstehe, fühle ich mich ein wenig benommen. Unten im Wohnzimmer setze ich mich aufs Sofa. Eugen liest am Tisch. Plötzlich höre ich einen hohen Ton. Dieses “Kling” kenne ich von früher; es leitet normalerweise bei großem körperlichen Schmerz einen Schwächeanfall bei mir ein. Zwischen Eugen und mir öffnet sich mit einem Male eine Kluft, entsetzlich tief und breit. Für Eugen ist sie unsichtbar, er bemerkt nichts. Ich habe meine Sprache verloren und versuche, ihn mit Armbewegungen auf mich aufmerksam zu machen. Er sieht nicht herüber. Niemals zuvor habe ich diesen Abstand zwischen mir und einem anderen Menschen empfunden. Doch war ich nicht mein Leben lang  allein gewesen, auf mich selbst gestellt, abgeschnitten von allen anderen? Wie schwer war es mir immer gefallen, auf andere zuzugehen! Zum ersten Mal wird mir die Tiefe dieser Kluft, die ich sonst verdränge, bewusst.

Eugen schweigt noch immer. Dann steht er auf, greift zum Glas und gießt Tomatensaft hinein. Bevor er ihn mit dem Löffel durchrührt, fügt er schwarzen Pfeffer und Curcuma hinzu.
Trinkend geht er an die schwarze Tafel in die Küche und schreibt eine weitere Zeile.

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

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