Ich hatte nachgegeben und eingewilligt, meiner Mutter mal wieder den Einkauf abzunehmen, damit sie genügend Zeit hatte, das Haus für den Besuch ihrer Freundin vorzubereiten. Ich gab den guten Sohn, denn eigentlich hatte ich keine Zeit, weil ich in einer Stunde mit Leon verabredet war. Deswegen griff ich nach meinem Schlüssel, besorgte mir eine Tragetasche aus dem Keller und machte mich ohne Umwege auf den Weg zum Supermarkt. Den Weg konnte ich innerhalb weniger Minuten zu Fuß zurücklegen. Für gewöhnlich ging ich nicht in diesen Supermarkt, weil Mama die Lebensmittel dort zu teuer waren und wir etwas aufs Geld achten mussten. Doch mit einem Blick auf den Einkaufszettel stellte ich fest, die zwanzig Euro, die ich in Händen hielt, würden auch im Markt um die Ecke reichen. Später würde ich mir von Mama wieder etwas dazu anhören müssen, doch das war mir in diesem Moment egal. Die Bequemlichkeit in mir siegte. Nachdem ich Brot, Milch, Butter, Eier, Kartoffeln und Mineralwasser von meiner Liste abgearbeitet hatte, fehlte nur noch der Senf, den Mama für ihre Senf-Eier benötigte. Ich schlenderte durch die Tiefkühlabteilung noch einmal zurück, um zum Senf zu gelangen. Als auch der in meinem Einkaufswagen gelandet war, stellte ich mich in die lange Schlange vor der einzigen geöffneten Kasse. Unmittelbar hinter mir näherte sich eine alte Frau mit Rollator. Sie hielt kurz inne, bevor sie fragte: »Entschuldige, hättest du was dagegen, wenn ich meine drei Teile kurz vor dir auf dem Band platziere?«
Völlig genervt antwortete ich:
»Und ob ich was dagegen hätte.« Die Oma verzog das Gesicht, aber erwiderte nichts. Stillschweigend wartete ich und meine Laune sank immer tiefer, weil ich mich mal wieder breitschlagen lassen hatte, weil diese Oma Sonderbehandlung wollte, weil diese Kassiererin so elendig langsam war und weil ich pünktlich bei Leon sein wollte. Dann schallte es durch die schlecht eingestellten Lautsprecher: »Wir öffnen Kasse 3, wir öffnen Kasse 3.« Die Oma hinter mir hatte den wesentlich kürzeren Weg zu Kasse 3. Ich hätte laufen und sie überholen können, doch mit dem Einkaufswagen wäre ich nie im Leben an ihrem sperrigen Rollator vorbeigekommen, der durch einen quer daran befestigten Gehstock noch breiter wurde. Ich musste ihr diesen Triumph gewähren. Dennoch machte auch ich mich auf den Weg in Richtung Kasse 3, weil ich hoffte, so wenigstens etwas früher aus dem Supermarkt zu kommen. An Kasse 3 stand ein junger Mann, der nur ein paar Wasserflaschen und eine Zeitung kaufen wollte. Hinter ihm die Oma von eben und schließlich ich. Der Mann war schnell weg, der nun männliche Kassierer zog die Teile der Oma über den Scanner und sagte schließlich: »Das macht dann bitte 5,63 €.« Die Oma fragte nach. Der Kassierer wiederholte: »5 Euro und 63 Cent.«
»Wie bitte?«, fragte die Oma erneut.
Ich konnte es kaum glauben und brüllte: »Der Mann möchte 5,63 € von Ihnen, verstehen Sie, 5,63 €!«
Sie starrte verblüfft zu mir, drehte sich zum Kassierer und bat ihn: »Sind Sie so lieb und nehmen sich das Geld selbst? Ich habe meine Brille vergessen.«
Um Gottes Willen, dachte ich. Jetzt geht das auch noch los. Der Kassierer fingerte schnell das nötige Geld aus dem Portemonnaie, überreichte der Oma den Kassenbon und wünschte ihr einen schönen Tag. Die Oma räumte ihre Einkäufe in den Korb ihres Rollators. Beim dritten Teil gelang ihr das nicht ganz, es fiel zu Boden. Weil sie keine Anstalten machte, es aufzuheben, bückte ich mich und gab ihr die Tüte Nudeln in die Hand. »Vielen Dank«, sagte sie, doch ich erwiderte nichts, sondern warf ihr einen genervten Blick zu. Endlich verschwand sie und ich konnte bedient werden. Es ging im Eiltempo, da ich schon während der Kassierer die Teile über den Scanner zog, damit begonnen hatte, die vorigen in die Tasche zu packen und das Geld parat hielt. Ich ging schon in Richtung Ausgang, als er plötzlich rief: »Du hast den Kassenzettel vergessen!«
Ich ließ den Wagen stehen, drehte mich um und rempelte dabei einen Mann an. Der blickte mich böse an.
»Ey, kannst du nicht mal aufpassen. Mach' gefälligst deine Augen auf. «
Ohne ihn zu beachten, nahm ich den Kassenbon, verzog mich schnell mit meinem Wagen nach draußen, wobei ich kurz vor der Ladentür die Oma überholte. Draußen räumte ich den Wagen leer und zog mit meinem Beutel davon. Mein Weg führte durch einen Park und hin und wieder musste ich aufpassen, nicht über eine Baumwurzel zu stolpern.
Auf halber Strecke riss mich jemand an meiner Schulter rum. »Hab ich dich, Freundchen.«
Ich erschrak. Es war der Mann aus dem Supermarkt. Er hatte ein breites Kreuz, war sehr muskulös und baute sich mit geballten Fäusten vor mir auf und sah mich an. Ich blickte in seine hellblauen Augen, überlegte kurz und entschied mich, wegzulaufen. Ich weiß nicht wie, aber es gelang mir, dem Mann immer ein paar Meter voraus zu sein. Am Ende des Parkweges bog ich um die Ecke, war erleichtert, wieder unter Leuten zu sein. Hin und wieder schoss ich an einem Passanten vorbei. An der Kreuzung sah ich den Bus halten. Die Türen öffneten sich und eine alte Frau stieg aus. Ich schaute noch einmal genauer hin und erkannte die Oma aus dem Supermarkt. Sie blickte in meine Richtung, blieb stehen und wartete ruhig an der Straßenecke. Ich rannte weiter, der Mann immer noch dicht hinter mir. Als ich auf gleicher Höhe mit der Oma war, sah ich nur noch im Augenwinkel, dass sie ihren Gehstock vom Rollator nahm und dem Mann, der mich verfolgte, voll auf den Fuß rammte. Er fiel zu Boden und wimmerte vor Schmerzen. Die Oma schaute den Mann an, schaute kurz zu mir und dann direkt wieder zurück zum Mann und sagte »Ey, können Sie nicht aufpassen, unter wessen Stock Sie Ihren Fuß halten?«, befestigte ihren Gehstock am Rollator und schob diesen fort.