„Sie hatten also schon einmal Probleme mit der Polizei?“
Hanna blickte in das Gesicht ihres Gegenübers. Kleine Fältchen um die Augen zeigten ihr an, dass die Frau schon etwas älter war. Die strahlend blauen Augen schienen dem Betrachter jedoch das Gegenteil beweisen zu wollen. Nun sahen sie direkt in Hannas, neugierig auf eine Antwort wartend.
„Ja, so kann man es sagen“, antwortete Hanna.
Melina Jakob runzelte die Stirn. „Was meinen Sie denn damit? Was haben sie denn verbrochen?“
„Ich hab‘ gar nichts verbrochen!“, kam Hannas Antwort heftiger als geplant. Verlegen versuchte sie es mit einem Lächeln abzuschwächen.
Melina runzelte die Stirn. „Sie haben nichts getan? Warum haben sie dann auf meine Annonce geantwortet?“, fragte sie.
Hanna schwieg einen Moment, um zu überlegen, wie sie es der Journalistin am besten erklärte. Als sie in der Zeitung die Annonce gesehen hatte, wusste sie, dass es Schicksal war. Junge Erwachsene (max. 20 J.), die Probleme mit Polizei hatten für Zeitungsartikel gesucht! Sie hatte sofort die Journalistin Melina Jakob angerufen.
„Ich hatte Probleme mit der Polizei“, begann Hanna, „Vor knapp einem Monat lief eine Anzeige gegen mich. Aber außerdem hatte ich auch erhebliche soziale Probleme mit der Polizei.“ Hanna lächelte bitter. Sie konnte sich noch genau an die Stimme des bulligen Schnauzbart-Polizisten erinnern, an die Empörung, die die gefühllose und harte Stimme in ihr ausgelöst hatte. „Es wurde bei Ihnen also ein Diebstahl begangen“, hatte er festgestellt, als ihn der Supermarktbetreiber begrüßt hatte. Als ob sie Luft wären. Und dann dieser Blick…
„Sie haben also geklaut?“, fragte Melina und unterbrach so Hannas laute Überlegungen.
Hanna blinzelte. „Nein, ich habe noch nie etwas gestohlen“, stellte sie richtig.
„Nein? Aber sie sagten doch gerade, dass geklaut wurde...“
„Ja, aber ich war’s nicht. Sondern Maria.“ Hanna schnaubte. „Maria stand da und hat geweint. Und der Polizist? Oder der Supermarktbetreiber? Denken Sie, dass hat einen von beiden interessiert? Sie haben Maria angeschaut, als hätte sie ein schlimmes Verbrechen begangen. Sie haben sich null dafür interessiert, wie aufgelöst Maria war. Und die Strafe ist auch völlig überzogen. 100€ musste sie zahlen und außerdem hat sie ein Jahr Hausverbot erhalten.“ Hanna sah wütend auf ihre Hände. „Dass ich mich bei ihnen gemeldet habe, war sozusagen die Einlösung eines Versprechens.“ Sie sah wieder auf. Ihr Blick streifte das Diktiergerät, das auf dem runden Tisch des gemütlichen Cafés lag.
Melina schwieg, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich an, dass sie nur einen Moment brauchte, um die Fragen ihrem Kopf zu sortieren. „Wer ist Maria?“, war schließlich die erste, die über ihre Lippen kam. „Ihre Freundin?“
„Ja…oder nein. Inzwischen ist sie eine sehr gute Freundin, aber damals kannte ich sie noch nicht.“
„Nicht? Was hat sie dann mit ihnen zu tun?“ Melina hatte sich etwas nach vorne gelegt. Die blauen Augen waren schmal, so intensiv musterte sie Hanna. Die erwiderte den Blick fest. „Warum? Weil ich noch Mitgefühl empfinde!“
„Sie haben ihr also geholfen?“, schlussfolgerte Melina. „Die Anzeige- Kommt sie daher? Haben sie eine Falschaussage gemacht? Behauptet gesehen zu haben, dass sie es nicht gewesen war?“
Hanna schaute überrascht, fast ärgerlich. „Die Idee ist mir nicht gekommen. Ich habe nur da gestanden und geredet. Hat nicht so gut geklappt…könnte auch an meinem Tonfall gelegen haben.“ Hanna senkte mit einer Mischung aus Verlegenheit und Ärger den Blick. Plötzlich lächelte sie wieder. „Aber letztlich ist es ja gut ausgegangen.“
„Gut ausgegangen?“, fuhr Melina dazwischen, „und was ist mit der Anzeige? Ich würde ja sagen, dass ist kein guter Ausgang.
Hanna seufzte: „Ach ja, die Anzeige. Die hab ich an der Backe, wegen Beamtenbeleidigung. Da ist die Empörung etwas mit mir durchgegangen. War aber auch unerhört…“
Melina unterbrach Hanna. Die Journalistin hob die Augenbraue: „Unerhört? Na, ich weiß nicht. Es mag ja sein, dass die Polizei etwas unfreundlich war. Aber Ihre Freundin hat geklaut.“
„Sie hat nicht geklaut.“
„Nein?“ Melina seufzte und lehnte sich wieder zurück, „Haben Sie das nicht vorhin gerade gesagt.“ „Ihr wurde es vorgeworfen“, berichtigte Hanna.
Melina fixierte die junge Frau wieder. „Ach, Maria wurde falsch verdächtigt?“
„Na ja, nicht ganz,“ antwortete Hanna vage. Es war als würde sie wieder das durchdringende Piepen der elektronischen Warensicherung hören und den hilflos, erschrockenen Blick aus den grau-blauen Augen sehen. „Sie hatte zwei Schokoladenriegel in ihrer Tasche. Aber sie hatte sich sofort entschuldigt, dass sie sie vergessen hatte.“
Melina verzog das Gesicht: „Diese Ausrede klingt doch arg unwahrscheinlich.“
„Unwahrscheinlich?“, fuhr Hanna auf, „Maria ist 79 Jahre. Da kann das doch mal vorkommen.“ Sie schnaubte wütend.
Melina riss überrascht die Augen auf. „79?“ Während Hanna nachdrücklich nickte, ging Melina das Gespräch noch einmal blitzschnell unter diesem neuen Aspekt in Gedanken durch. „79…“ wiederholte sie nachdenklich, „Na, da versteh ich Sie vollkommen. Wie kann man mit einer alten Frau so umgehen?“
Etwas versöhnt nickte Hanna.
Immer noch etwas nachdenklich murmelte Melina“ „Wirklich unerhört. Also darüber schreib ich sofort.“ Dann sah sie Hanna wieder direkt in die Augen: „Sie sagten vorhin, sie hätten es jemanden versprochen. Meinten Sie Maria? Die wird’s sich freuen.“
Ein Lächeln erschien auf Hannas Gesicht: „Nein. Derjenige wird sich nicht freuen. Es war nämlich mehr eine Drohung als ein Versprechen.“
Melina lächelte ebenfalls. „Eine Frage hätte ich aber noch: Wie ging es denn weiter?“
„Eine Woche später war ich- gezwungener Maßen, weil er der nächste ist- wieder in dem Supermarkt. Als ich ihn wieder verlassen wollte, stand am Eingang Maria. Mit Muffins. Sie wollte sich bei mir bedanken und mir sagen, was für ein wundervoller Mensch ich sei.“ Hanna lächelte selig, „Und dieses Kompliment gebe ich gerne zurück. Sie ist eine so inspirierende Frau. Eine Frau, die es nicht verdient, von Leuten, die das Alter nicht achten so behandelt zu werden.“