Im falschen Körper

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

„Mann Oma, jetzt nerv nicht!“, rufe ich genervt und renne in mein Zimmer. Oma Traudi ist in letzter Zeit etwas vergesslich, ich habe ihr nun schon zum fünften Mal erklärt, dass ich nächste Woche keine Zeit habe. Sie hat etwas traurig ausgesehen. Aber zum einen habe ich nächste Woche wirklich keine Zeit und zum anderen ist es doch peinlich etwas mit seiner Oma zu unternehmen.
Es klopft.
„Herein!“, rufe ich. Es ist Oma Traudi.
„Lisa, kannst du mir das bitte vorlesen?“, fragt sie.
Ergeben nehme ich das Stück Papier und fange stockend an zu lesen: „Um linändr näprtau könmin, reidn suh Lössr. Din mei leusenr zugenik mei so kimnnem. Tomender getning rehm woffun. Gahet unmen mei gachän.“
Ich schaue verwirrt auf an. Oma hat die Augen geschlossen und scheint die Lippen mit bewegt zu haben.
„Was ist das für ein Text?“
„Das erkläre ich dir ein anderes Mal. Es tut mir leid.“ Sie sieht mich traurig an. Dann reißt sie mir das Papier aus der Hand und geht aus meinem Zimmer. Kurze Zeit später höre ich die Haustüre, sie wird vermutlich nach Hause gehen.

Ich wache auf. Ist heute nicht Montag? Warum hat mein Wecker nicht geklingelt? Ich schaue auf das leuchtende Display: 9:27 Uhr. Schlagartig bin ich hellwach. Ich muss seit über einer Stunde in der Schule sein. Warum hat mich niemand geweckt? Ich setze mich auf und… brauche einen Moment um mich zu orientieren. Wo bin ich? Das ist nicht mein Zimmer! Nach einem kurzen Moment der Verwirrung, erkenne ich das Schlafzimmer meiner Oma. Das erklärt das „Wo“, aber nicht das „wie“. Wie bin ich hier her gekommen?
Langsam stehe ich auf. Ich habe ein langes, weißes Nachthemd an. So eines findet sich bestimmt nicht in meinem Kleiderschrank. Das sieht so alt, so Oma-mäßig aus.
„Oma? Oma!“ schreie ich durch ihr ganzes Haus. Sie muss doch irgendwo sein!
Da klingelt das Telefon.
„Hallo?“
„Lisa, bist du da?“, fragt eine junge Stimme, „ich bin es, Oma.“
„Wo bist du?“
„Bei dir daheim. Hast du schon in den Spiegel geschaut?“
„Nein, warum?“
Aber da fällt mein Blick fast automatisch auf den Spiegel. Vor Schreck fällt mir fast der Hörer aus der Hand. Ich sehe Oma mit dem Telefonhörer in der Hand.
„Lisa, es tut mir so Leid.“, sie hört sich so an, als würde sie heulen, „wir haben Körper getauscht. ES tut mir wirklich leid! Lisa, hörst du mich? Bist du noch da? Lisa? Antworte doch! Es tut mir Leid!“
Aber ich bin unfähig mich zu bewegen, das kann doch nicht sein! Körper tauschen, so etwas geht nicht! Meine Omi hat sich immer mit Esoterik und Homöopathie und allem beschäftigt, aber das geht dann doch zu weit, so etwas gibt es einfach nicht. Aber doch, was gibt es sonst für eine Erklärung? Oma brüllt immer noch in den Hörer, jetzt bin ja auch ich die Schwerhörige. „Oma? Ich bin noch da, tut mir Leid, aber damit hatte ich nicht gerechnet. Was jetzt?“ Ich stehe immer noch unter Schock.
„Mein Kalender ist neben dem Telefon, siehst du ihn? Ich bin in der Schule. Claire, deine Freundin ist sofort auf mich zugekommen, ich glaube sie schöpft keinen Verdacht. Ich muss jetzt gehen, wir haben Mathe in der nächsten Stunde und ich glaube das war noch nie unser bestes Fach. Nimm meine Termine bitte auch an.“
Ich möchte etwas erwidern, aber sobald sie fertig war mit reden, hat sie die Verbindung abgebrochen. Mit einem Seufzen hänge ich die Hörer wieder auf das Telefon. Das ist so ein Steinzeitteil, aber immerhin hat es keine Wählscheibe mehr, sondern schon normale Zahlentasten. Da entdecke ich Omas Kalender, oder ist das jetzt meiner? Langsam nehme ich ihn und werfe einen Blick herein. Alles steht sehr ausführlich darin; was sie, beziehungsweise ich, wann macht und auch wo. Sie wusste es also wirklich? Der nächste Termin ist in einer halben Stunde, da muss ich mich aber ran halten. Hm, etwas kirchliches, da habe ich jetzt auch nicht wirklich Lust darauf, aber wenn sie schon für mich in die Schule geht, dann muss ich das wohl machen.
Schnell gehe ich wieder ins Schlafzimmer und will mich umziehen, aber das ist leichter gesagt, als getan. Was zieht man als eine Frau über 70 an?
Als ich endlich fertig bin, muss ich fast rennen um noch rechtzeitig zu kommen, aber ich denke das macht man in diesem Alter nicht mehr und schaffen würde ich es wahrscheinlich auch nicht.
Bin ich eben etwas später dran. Die restlichen Leute kommen ohne mich sowieso nicht rein, da man meiner Oma den Schlüssel gegeben hat.

Am Abend lasse ich mich mit einer Tasse Tee auf das Sofa fallen. Das war ein anstrengender Monat, das muss ich zugeben. So viel Vitalität hätte ich Omi nicht zugetraut. Allein heute ging es morgens los mit einem Besuch beim Arzt. Danach musste ich mich um meine kleine Cousine/ihre Enkelin kümmern und überschneidend noch das Mittagessen für meine Brüder kochen, die heute hier gegessen haben. Für den Nachmittag hat sie sich dann als Helferin für den Kuchenverkauf im Altersheim, wo heute ein Jubiläumsfest war, eingetragen. Abends von sechs bis halb neun habe ich dann mit ihrer Radgruppe noch eine Fahrradtour unternommen. Für so alte Leute sind sie sehr schnell und vor allem weit gefahren.
Ich dachte, ich hätte nicht viel Zeit, aber die Tage von Oma sind auch anstrengend. Vielleicht werde ich einfach ein paarmal mit Radfahren gehen. Sie opfert sich wirklich auf für uns alle. Ich muss „nur“ lernen. Schon nach dem heutigen Tag bewundere ich Omi für das, was sie jeden Tag macht.
Ich habe mitbekommen, wie schwer es zum Teil ist. Auch wenn sie noch sehr fit ist, so kann sie doch nicht mehr so gut sehen, die Gelenke machen nicht mehr so gut mit und sie hört auch nicht mehr so gut, wie ich es gewohnt bin.

Ich wache auf, in meinem Zimmer. Im ersten Moment begreife ich es gar nicht, aber es ist wirklich mein Zimmer.
Da Samstag ist muss ich nicht in die Schule und fahre sofort zu Oma.
Bei ihr erfahre ich, dass die Zeile, die ich lesen sollte ein uralter Zauberspruch war, der bedeutete: „Um einander näher zu kommen, kreuzen sich zwei Körper. Bis sie einander besser verstehen, sollen sie so bleiben. Gemeinsam werden sie mehr schaffen. Darum lass es uns machen.“
Anscheinend haben wir mehr Verständnis füreinander entwickelt und sind wieder die alten geworden.

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

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Die Jury

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Worum geht es im "Wissenschaftsjahr 2013 - Die demografische Chance"?

Die Siegerehrung zum Wettbewerb "U20-Ü60"

Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...

Autorin / Autor: von Selina, 18 Jahre