Falsche Richtung

Einsendung zum Wettbewerb U 20 - Ü 60

Dunkelheit lag zäh und undurchdringlich über der Gasse. Tropfen prasselten hinunter auf das Kopfsteinpflaster und hinterließen dunkle Spuren an den dünnen Wänden der anliegenden Häuser. Der Regen übertönte in seinem beständigen Rauschen beinahe die beschwerlichen Schritte einer älteren Dame. Sie kämpfte sich durch den Regen und stützte sich mühevoll auf den klapprigern Rollator. Mit jedem Augenblick errang die Nässe ein weiteres Stück ihrer einfachen Kleidung. Immer wieder stolperte sie oder kippte nach vorn, weil die Räder des Rollators dem feuchten Untergrund nicht gewachsen waren. Vor einer hölzernen Haustür hielt sie in der Bewegung inne und kramte einhändig einen Schlüssel aus ihrem tropfenden Baumwollbeutel hervor. Ihre linke Hand krampfte sich um die Halterung des Rollators, sodass sich die fleckige Haut um die hervortretenden Knöchel spannte. Die andere Hand hielt nun den Schlüssel und nestelte zittrig an dem tief gelegenen Türschloss herum. Die Tür sprang auf und ließ den strömenden Regen hinein. Die Gewohnheit erleichterte der Alten das Bewältigen der kleinen Stufe, die sie in den spärlich beleuchteten Hausflur führte. Nachdem sie den Rollator umständlich abgestellt hatte, trat sie ins Treppenhaus, eine Hand an dem Geländer geführt. Das Haus diente als kleines Wohnheim, mitten im abgeschiedenen, verarmten Altenviertel. Hier wohnte niemand, der unter sechzig Jahre alt war. Die Alte seufzte tief und kehlig, während sie drei Stockwerke Schritt für Schritt, Stufe für Stufe erklomm. Endlich angekommen, betrat sie ächzend die Wohnung. Die staubige Glühbirne erhellte den Flur nur dürftig. Sie pellte sich aus dem Anorak und sah wie automatisiert in den antiken Spiegel. Mit müden, tief liegenden Augen musterte sie sich, als sähe sie sich selbst zum ersten Mal. Das schüttere Haar klebte feucht in ihrem Nacken. Vorsichtig fuhr sie sich mit den Fingern über die Haut. Das Alter hatte sie durch tiefe Furchen gezeichnet, Falten betonten jedes gelebte Jahr. Ihre Hand strich über die eingefallenen Wangen. Die Zeit hatte ihre Spuren an ihr hinterlassen.
Sie wandte sich ab und trottete in das karg eingerichtete Wohnzimmer. Erschöpft ließ sie sich in die verfilzten Polster des Sofas fallen. In einer unendlich langsamen Armbewegung griff sie nach der Fernbedienung und schaltete das Fernsehgerät ein. Das Bild flackerte unheilvoll. Heutzutage gab es 4D-Fernseher und von Künstlicher Intelligenz gesteuerte Putzroboter, doch die Alten konnten sich diesen Luxus nicht leisten. Der demografische Wandel hatte sie schon vor über hundert Jahren übermannt. Nur jeder zwanzigste Alte wurde von der Jugend unterstützt, der Rest war einquartiert in düstere, armselige Altenviertel. Es waren einfach zu viele Alte geworden, und niemand schien noch die Notwendigkeit zu sehen, sich um sie zu kümmern. Endlich kam das Bild zum Stehen und erhellte den Raum in blasser Farbe.
„… große Fortschritte in der Modernisierung der Luftstraßen. Die Regierung zeigt sich kooperativ, was die finanzielle Unterstützung des millionenschweren Projekts angeht. Wir haben mit Finanzministerin Evelyn Banst gesprochen“, verkündete die dünne, jugendliche Stimme der Nachrichtensprecherin. Die blonden Locken fielen ihr um das kindliche Gesicht, ihr aufgesetztes Lächeln schien geprägt von der aufgedrängten Professionalität, die den jungen Menschen heutzutage gelehrt wurde. Die große Karriere machte man, noch bevor zwei volle Jahrzehnte Lebensjahre erbracht wurden. Fünfzehnjährige bevölkerten die politischen Talkshows, Elfjährige wählten die Landesvertreter. War es das, was einst so ehrgeizig angestrebt worden war? Die Alte fuhr sich nachdenklich über die Lippen. Damals, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte man versucht, den demografischen Wandel in die richtige Richtung zu wenden. Man wollte die Jugend stärken, damit sie sich um die Alten kümmern konnte. Doch war das das gewünschte Ziel gewesen? Modernste Technik und fortschrittliche Politik unter der Jugend, aber Unterdrückung und Armut der Alten? Dass Städte gesellschaftlich durch Alt und Jung gespalten war? Dass die Ältesten hilflos den Strömen der Zeit ausgesetzt waren? Die Jugend hatte das Ruder in die Hand genommen, und dabei vergessen, die alten Generationen mitzuziehen. Der Blick der Alten nahm einen verbitterten Ausdruck an, während sie den Fernsehbildschirm abtastete.
„Wir sind der Auffassung, gerade in diesen finanziell komplizierten Zeiten zukunftsorientiert handeln zu müssen. Und dabei sind wir verpflichtet - und in diesem Punkt sind wir uns alle einig - Risiken einzugehen.“ Evelyn Banst lächelte selbstbewusst in die Kamera, während sie ihren Vortrag herunterratterte. Langsam verschwamm das Bild vor den Augen der Alten. Die Konturen verwischten, verliefen ineinander und hinterließen nichts als bunte Farbflecke. „…nichts, was wir nicht auch selbst schaffen könnten. Ein potentielles Bündnis mit Schottland und Wales hat daher kaum Priorität. Zunächst müssen wir sehen, dass wir innerhalb der Grenzen …“ Die Stimme wurde immer leiser, leiser, sie wurde beiläufig, immer unwichtiger, verwebte sich mit den Grenzen zwischen Realität und Traum. Schließlich war sie ganz fort, weggespült von der Wirklichkeit. Die Alte war eingeschlafen.

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U20 - Ü60 - So wollen wir zusammen leben

*Einsendeschluss!* Nun werden die Texte gezählt, gesichtet, sortiert, gestapelt und veröffentlicht. Und während die Jury liest, könnt ihr den Publikumspreis per Voting ermitteln!

*Bitte lesen!!!*: Teilnahmebedingungen

Die Jury

Schöne Preise für die schönsten Einsendungen

Worum geht es im "Wissenschaftsjahr 2013 - Die demografische Chance"?

Die Siegerehrung zum Wettbewerb "U20-Ü60"

Es war schwer, aber die Jury hat entschieden...

Autorin / Autor: von Laureen, 14 Jahre