Evelyn:
Es ist an einem grauen, windigen Morgen gewesen, der jedem, der gen Himmel schaute, einen regnerischen Tag prophezeite. Seltsamerweise erinnere ich mich daran am Besten: wie die alte Eiche vor meinem Fenster sich zu verneigen scheint, vor der unsichtbaren Kraft des Windes.
An jenem Morgen war ich wie gewöhnlich um 6 Uhr aufgestanden und saß nun vor meinem großen Esszimmerfenster, als ich den Schrei hörte.
Mein erster Gedanke war zugegeben unfreundlich: „Was haben die Kinder von Oben jetzt schon wieder ausgeheckt?“ Unwillig erhob ich mich aus dem Ohrensessel und tastete nach meiner Gehhilfe. Meine Knochen schienen von Tag zu Tag schwerer zu werden.
Die Männerstimme im Flur (eindeutig der Nachbar von gegenüber) wurde vor Aufregung immer schneller.
Ich öffnete meine Eingangstür und sah, wie vermutet, die Herrschaften aus der Nebenwohnung im Hauseingang stehen.
Von den Brassmanns hörte ich normalerweise nur das leise Türklappern wenn sie das Hause verließen oder nach Hause kamen, mehr nicht, weswegen ich umso beunruhigter war, dass es nun sie waren, die an einem Samstagmorgen auf dem Flur herumlärmten.
„Was ist denn hier los?“, erkundigte ich mich und veranlasste die beiden ungewollt dazu, erschrocken zu mir herumzufahren.
Entgeistert, und hier passt das Wort wirklich wunderbar: er sah tatsächlich aus, als sei er vor Kurzem einem Geist begegnet, sah mich Herr Brassmann an.
„Mein Mountainbike!“, stammelte er und sofort dachte ich an das teure Rad, dass in letzter Zeit immer in unserem schmalen Hauseingangsflur stand und mir und meiner unpraktischen Gehhilfe schon oft den Weg versperrt hatte.
„Wir wollen Sie nicht weiter belästigen, Frau Blaschke. Sie müssen doch müde sein! Es tut uns leid, dass wir sie geweckt haben“, mischte sich seine Frau ein. Natürlich wussten sie nicht, dass ich schon längst nicht mehr geschlafen hatte. „Oh nein! Das haben Sie nicht – wirklich. Was ist denn nun mit ihrem Rad?“
„Mein neues Mountainbike, erst vier Wochen alt, ist weg. Aus dem Flur geklaut worden! Es muss jemand aus diesem Haus gewesen sein!“ Sein Blick wanderte wild umher und seine spärlichen dünnen Haare standen zerrauft in alle Richtungen ab. „Denn die Haustür war die ganze Nacht lang verschlossen!“
Meine Gedanken ratterten: da gab es nur 2 Möglichkeiten. Entweder die Familie Oben war es gewesen oder aber... ich.
Ruzenin (Nini):
Wir sitzen am Esszimmertisch: Baba, Halil, Sina, ich, Mama (meine deutsche Mama. Hab nämlich zwei: meine Eltern sind geschieden und Anne, also meine richtige Mama, lebt jetzt wieder in der Türkei. Mama ist die neue Frau von Baba und die Mutter von Sina.)
Baba tippt nervös mit seinen Händen auf die Tischplatte. Baba ist immer nervös, wenn er gerade nicht arbeitet, weil er so unter Druck steht.
„Das Rad von den Bassmanns wurde gestohlen“, erzählt Mama und es klingt unbeteiligt, aber ihren wässrig blauen Augen entgeht nichts. Halil schaut sie besonders streng an – aber das ist klar. Er macht immer irgend nen Quatsch. Ich versuch mir diesen Lammblick von Sina zu klauen. Sie sitzt da, mit veschränkten Fingern und schaut wie ne richtige Streberin.
Ich guck zu Halil – meinem Zwillingsbruder. Hat er was damit zu tun? Früher hätte er mir das erzählt, aber jetzt ist er auf dieser Coolen-Schiene, dieser „Meine-Schwester-hat-keine-Ahnung“- Sache. Er spürt meinen Blick und schaut gleich voll genervt. Ich verschränke meine Arme.
„Es war ein sehr teures Mountainbike“, erklärt Mama, als hätten wir das nicht selber gesehen. Jedes Mal, wenn er es stolz im Flur hat stehen lassen, damit ihn jeder ne Runde beneiden kann.
„Der Arme“, meint Sina, die Brave, während ich im Stillen echt hoffe, dass Halil nichts damit zu tun hat. Das gäbe echt Ärger, damit macht man keinen Spaß!
„Vielleicht wars ja die alte Frau von unten“, schlägt Halil achselzuckend vor.
Babas Finger unterbrechen das Klopfen. „Halil! Das ist eine alte Dame, ein bisschen Respekt.“ Das ist Babas Lieblingswort. „Respekt“
Halil murmelt irgendwas vor sich hin, es hört sich an wie: „Vielleicht kann sies zu Geld machen“ oder so, aber ich bin nicht sicher.
Auf Babas Stirn erscheinen grimmige Falten. „Halil? Was habe ich gerade gesagt?“ Und ehe wir uns versehen, sind wir in der längsten Standpauke unseres Lebens gefangen. Die Hierarchien-Liste meines Vaters: Arbeiten, Respekt, Standpauken für seine Kinder.
Wir sind fertig mit dem Frühstück und er redet immer noch. Schließlich entsteht ne kurze Pause, dadurch, dass wir abräumen. Ich nutz die Gelegenheit und rufe: „Ich geh jetzt in die Stadt!“
Dann renn ich ins Bad, putz kurz Zähne und fliehe aus der Wohnung.
„Hadi kosh, Nini“, ruft Halil hinter mir her. „Los, renn, Nini! Geh weg, lass uns allein mit Babas toller Stimmung.“ Letzteres traut er sich nur zu sagen, weil Papa grade außer Hörweite ist.
Evelyn und Ruzenin:
Der Bus hielt an der Haltestelle, an welcher eine weißhaarige Frau mit Gehhilfe stand und ein Mädchen mit lockigen, schwarzen Haaren. Beide redeten nicht miteinander, obwohl sie einige Gemeinsamkeiten zu haben schienen: sie wohnten im selben Haus und dachten angestrengt über den Diebstahl eines ganz bestimmten Mountainbikes nach.
„Vielleicht war sies echt“, dachte Nini „weil, wenn es keiner aus meiner Familie war – so dumm ist Halil auch wieder nicht, oder? – dann muss sie ja schuld sein.“
Und die alte Frau dachte: „Da ist das Mädchen. Wo sie das Fahrrad versteckt haben?“
Als der Bus kam, half Ruzenin der alten Frau namens Evelyn mit der Gehilfe in den Bus.
„Danke dir“, sagte Evelyn freundlich und kein Außenstehender würde vermutet haben, welche Tat sich die beiden Menschen heimlich vorwarfen. Da der Bus voll, und nur noch eine Sitzbank frei war, setzten sich die beiden Nachbarn zusammen in diese Reihe.
Ruzenin begann in ihr Handy zu tippen. Auf WhatsApp machte sie einen Treffpunkt mit ihrer Freundin aus.
Evelyn lächelte ironisch. „Die Kleinen können es nicht ohne Handy aushalten! Was die Gehilfe für mich ist, ist wohl das Telefon für sie! Eine Überlebenshilfe.“
Dennoch bewunderte Evelyn, wie flink die Finger ihrer türkischen Nachbarin über den Bildschirm flitzten. Sie las die Nachricht, die auf dem Bildschirm erschien: In 10 Min. beim H&M? :-)
Ruzenin sah die neugierigen Blicke ihrer Sitz- und Wohnnachbarin. „Was liest die jetzt mit?“, dachte sie ärgerlich und schrieb darauf: Is es interessant, Gespräche von anderen zu lesen?!
(Ihr Vater hätte mit erhobenen Zeigefinger Respekt gefordert, aber er war ja nicht da.)
Ruzenin bemerkte wie Evelyns Augen rund wurden und sie schnell in eine andere Richtung blickte.
Zuerst schämte Evelyn sich – man las ja schließlich auch keine fremden Briefe- aber dann fiel ihr der Diebstahl wieder ein und die Detektivin in ihr erwachte. „Hör mal, Herrn Brassmann wurde das Rad gestohlen“, fing sie an. „Was interessiert mich dem Brassmann sein Fahrrad?“, erwiderte Ruzenin und Evelyn musste kräftig schlucken, damit sie diesen abstrusen Grammatikfehler nicht verbesserte, sonst würde sie nie was aus dem Mädchen herausbekommen!
„Es ist immerhin ein ziemlich teures Rad“, war Evelyns vage Anschuldigung.
„Was soll das heißen?“
Schien, als wäre das Mädchen nicht dumm.
„Weißt du, Kind...“ Evelyn wurde unterbrochen.
„Ruzenin.“
„Was?“
„Ich heiße Ruzenin. Nicht Kind.“
Zum zweiten Mal war es Ruzenin gelungen, Evelyn aus dem Konzept zu bringen, vielleicht steckte ja doch mehr hinter diesem Mädchen, hinter dieser Familie, als es Evelyn bisher je für möglich gehalten hatte? Vielleicht hatten sie das Fahrrad überhaupt nicht gestohlen? Dieser Gedanke kam so überraschend für Evelyn, dass sie erst mal gründlich nachdenken musste. Wer sollte es dann gewesen sein?
Nini beobachtete Evelyn und fragte sich, was die alte Frau wohl dachte.
Und diesmal war es Evelyn, die Ruzenin erstaunte – mit schonungsloser Offenheit: „Ich muss gestehen, ich dachte ihr hättet das Rad gestohlen.“
Ruzenin bemerkte den fast schon lauernden Blick ihrer Nachbarin.
„Das dachten Sie? Also in unserer Wohnung steht grad kein Fahrrad rum.“ Sie versuchte Evelyn mit ihrem schnippischen Ton zu ärgern. „Und überhaupt, wie kommen Sie auf so ne Idee? Dass wir n Fahrrad klauen?“
Nini ließ sich aber ziemlich schnell beschwichtigen. Immerhin, so überlegte sie, hatte sie es bis vor einigen Minuten auch nicht ganz abwägig gefunden, dass Evelyns runzelige Hände in diesem Fall mit drin steckten. Sooft hatte sich ihre weißhaarige Nachbarin über das Mountainbike im Flur beschwert, weil sie mit der Gehilfe kaum daran vorbeigekommen war. Der Flur war einfach verdammt eng! Und so ne kleine Rentenaufstockung...
„Aber wer war es dann?“, dachte Evelyn laut.
„Das sollten wir herausfinden“, fand Ruzenin und sah Evelyn abwartend an.
„Das sollten wir.“ Evelyn lächelte.
Eine Woche später (Nini):
Tja, was soll ich sagen?!
Evelyn und ich sind n richtig gutes Team. Ich trag ihre Einkäufe nach Hause und sie hilft mir bei den Hausaufgaben. (Ihr müsstet sie mal über Geschichte reden hören! So abgefahren, dass sie den 2. Weltkrieg erlebt hat! Wenn sie von der Zeit erzählt, mit ihrer leicht wackeligen Stimme, dann seh ich plötzlich all diese Dinge vor mir: ich seh die Soldaten am Fenster vorbei gehen, höre den Radiokasten erzählen, wie erfolgreich Deutschland im Krieg sei. Ich kann mir alles bildlich vorstellen und demzufolge (das Wort hab ich von Evelyn) merk ich’s mir. Echt ne krasse Sache.)
Und das mit dem Fahrrad... auch ne krasse Sache... haben wir längst gelöst: Halil ist unschuldig. So viel verrate ich euch. Und, wisst ihr, wer es war? Nein? Ich geb euch nen Tipp: sie wohnt im Haus, ist weiblich und heißt... Frau Brassmann! Hammer, oder? Als wir das herausbekommen haben, (Evelyn hat gesehen, wie sie das Fahrrad aus ihrem Kofferraum geholt hat, als alle anderen im Haus arbeiten/in der Schule waren und nem Typen verkaufen wollte) sprachen wir sie direkt drauf an und sie hats nicht bestritten. Sie meinte, es täte ihr nicht leid, weil das Fahrrad einfach viel zu teuer gewesen sei und Herr Brassmann- also ihr Mann- es einfach hinter ihrem Rücken gekauft hätte und außerdem nerve sie das Rad, weil er seine ganze Freizeit nur noch auf 2 Rädern verbrächte.
Unglaublich, dass weder Evelyn noch meine Familie schuldig ist.
Und jetzt schreiben Evelyn und ich diese Geschichte auf und grad meinte ich so zu ihr: „Ich finds schon hart: das mit dem Fahrrad hats doch jetzt echt nicht gebracht?!“ (Der Brassmann hat schon wieder ein Neues.)
Aber Evelyn hat den Kopf geschüttelt und mich angestupst. „Für mich hat es das gebracht.“
Sie versucht scherzend meinen Slang nachzuahmen, denn sie kritisiert meine Sprache immer. Aber so ist sie halt... die Jugend von heute.
PS: Ja, Evelyn, ich weiß, dass man bei einer Geschichte eigentlich kein PS macht... aber das muss ich noch loswerden: ehrlich gesagt, ich glaub, so viel anders war die Jugend von gestern oder vorgestern auch nicht, andere Worte vielleicht, andere Gesten... aber ausdrücken wollen wir doch alle das Selbe.