Wenn ein Kind stirbt
Es ist ein schwieriges Thema, vielleicht sogar zu schwierig, um wirklich so darüber zu schreiben... Stillergirl versucht es trotzdem.
Es ist ein schwieriges Thema, vielleicht sogar zu schwierig, um wirklich so darüber zu schreiben, dass es einigermaßen nachvollziehbar wird, wie es sich anfühlt, ein kleines Wesen zu verlieren. Strenggenommen kann ich auch nicht mehr alle Emotionen beschreiben, die mich damals ergriffen haben, weil seitdem schon drei Monate vergangen sind. So lange hat es gedauert, bis ich es in Worte fassen konnte. Jetzt aber sollte ich von vorne anfangen. Meine Tante und mein Onkel hatten schon lange einen Kinderwunsch, und als es endlich geklappt hatte, kam auch noch die freudige Nachricht, dass es Zwillinge werden würden. Dabei muss ich wohl erwähnen, dass mein Onkel nur 15 Jahre älter ist als ich und wir somit als Geschwister aufgewachsen sind und ich ihn eher als großen Bruder sehe. Deshalb wären die Zwillinge auch eher als kleine – wie er immer sagte – „Hobbybrüder“ bei mir durchgegangen, nicht als irgendwie verwandte Cousins. Der eigentliche Geburtstermin der Zwei wäre Ende November gewesen, doch leider, verursacht durch ein Loch, das einer der Zwei in die Fruchtblase getreten hatte, mussten sie schon Mitte August (24. von 40 Schwangerschaftswochen) per Kaiserschnitt auf die Welt gebracht werden.
Das Baby wollte einfach nicht leben
Naja, das alles ging eigentlich viel zu schnell um es zu realisieren. Allerdings werde ich nie den Moment vergessen, als mein Onkel aus dem Krankenhaus anrief und uns mitteilte, mit einer Stimme, die mir einfach Angst vor allem, was in naher Zukunft passieren würde machte, dass einer der Zwillinge einfach die Beatmungsmaschinen nicht annehmen wollte, und einfach nicht leben wollte, und die Ärzte alles versucht haben, aber nichts mehr tun konnten. Dieser Zwilling wäre aber der schwerere, größere und stärkere der beiden gewesen. Nach dieser Nachricht hab ich eigentlich gar nicht mehr richtig zugehört, hab nur noch nebenbei mitbekommen, dass aber der andere Kleine lebt (mit nicht mal 500g Geburtsgewicht, also auch dementsprechenden Chancen), und bin einfach zum Bus gelaufen, damit ich wegkomme und um mich – wie schon seit längerem glücklicherweise ausgemacht – in der Stadt mit meiner besten Freundin zu treffen, was auch meine erste Rettung war.
Geweint hab ich in einfach jeder ruhigen Minute ohne Ablenkung
Als ich sie mitten in der Fußgängerzone getroffen habe, mir war alles, einfach alles egal, ich hatte sowieso schon rote und verheulte Augen, bin ich einfach nur noch in ihre Arme gefallen und dort standen wir dann, ich weiß nicht wie lange, und sie musste mit weinen. Danach sind wir einfach in ein Café gegangen, und ich hab immer wieder versucht, die Tränen zu unterdrücken, und sie hat mir einfach zugehört, in den Momenten, wo ich reden wollte, und hat mir Mut zugesprochen, dass aber der andere Kleine es schaffen würde, weil er muss. Plötzlich klingelte mein Handy und meine Mutter war dran. Sie erzählte mir, dass sie jetzt gerade aus dem Krankenhaus kommt, dass sie beide Zwillinge gesehen hat, und nannte mir die Namen der beiden. Komischerweise ging es ihr relativ gut, und auch in den folgenden Tagen hab ich zumindest nicht mitbekommen, dass sie jemals am Boden gewesen wäre, also hab ich es einfach auch versucht, mit mehr oder wenigem Erfolg. Geweint hab ich dennoch in den ersten Tagen, beim Aufstehen, beim Essen, beim Einschlafen, in einfach jeder ruhigen Minute ohne Ablenkung, wobei unser aller Tagesablauf einfach nur aus den oben genannten „Aktivitäten“ bestand.
Ein Gefühl der Gleichgültigkeit
In der Zeit hatte ich aber auch glücklicherweise viel Zeit zum Nachdenken. Dabei kommen einem die absurdesten Gedanken und Ausflüchte, warum denn alles nun so passiert ist, wie es passierte. Zusätzlich kamen die Ängste, dass auch noch der zweite Zwilling es nicht schaffen sollte, was eigentlich nicht abwegig war. Ich wurde fast verrückt, hab mich einfach stundenlang im Zimmer eingesperrt und Musik gehört. Ich kann mit Recht sagen, dass es mir am schlimmsten ging aus der ganzen Familie, natürlich nach meinem Onkel und meiner Tante. Deren Gefühlswelt möchte ich mir gar nicht vorstellen. Meine beste Freundin und zwei Freunde von uns haben mich dann ein paar Tage vor der Beerdigung des Kleinen mitgenommen zu einem Ausflug, damit sie mich ablenken. Und bei der Hinfahrt, da bekam ich auf einmal ein Gefühl der Gleichgültigkeit gegenüber meinem Leben und allem was passieren kann oder soll, im Nachhinein schäme ich mich dafür. Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, wenn unser Freund jetzt einfach die Kontrolle über das Auto verlieren sollte und ich stellte in diesem Moment fest, dass es mir total egal gewesen wäre.
Am Tag der Beerdigung
Als der Tag der Beerdigung da war, dachte ich mir, dass ich vielleicht einen Schlussstrich ziehen sollte, das ganze Geheule einfach beenden sollte, was ich bis dahin einigermaßen unter Kontrolle hatte. Doch es war das pure Gegenteil, aber diesmal nicht wegen meiner Trauer. Vielmehr stach es (und es sticht immer noch, wenn ich heute daran denke) mir ins Herz, meinen Onkel dort stehen zu sehen, wie ein Häufchen Elend, dem zuerst alles gegeben wurde, um ihm dann alles wieder zu nehmen. Von nun an war er es, der mir die Tränen brachte, einfach sein ganzes Auftreten. Meine Mutter, in solchen Dingen hat sie wirklich den Durchblick, hat das irgendwie mitbekommen, diesen „Wechsel“, und es meinem Onkel erzählt. Als er das erfahren hat, wollte er mit mir reden. In diesem Gespräch bekamen wir heraus, dass es ihm auch an dem Tag, als ich den Ausflug hatte, durch den Kopf schoss, auf dem Heimweg von der Arbeit, was denn nun wäre, wenn er einfach von der Autobahn abkommen würde. Er hat tatsächlich mit Selbstmordgedanken gespielt, aber dachte dann noch an seinen lebenden Sohn, um den er jetzt mehr als alles andere kämpfen muss, und ihn deshalb nicht allein lassen kann. Von diesem Moment an wusste ich, dass es zwischen ihm und mir irgendein Band gibt, und dass es mir nur deshalb so schei*e ging, weil es ihm so ging und ich ihm einfach alles abnehmen wollte. Lieber wollte ich wochenlang leiden wie ein Hund, als dass ich ihn so sehen würde. Und genau von diesem Moment an hatte ich zum ersten Mal eine fast schon hundertprozentige Gewissheit, dass mein anderer Cousin überleben würde. Ich weiß nicht warum. Aber was ich sagen kann, heute ist er zwar immer noch auf der Frühchenstation, aber ist schon stolze 1,5kg schwer und kommt vielleicht nächsten Monat zu uns heim. Ich bin wohl eine der stolzesten Cousinen, die es gibt.
Es gibt schlimmeres als Liebeskummer
Wie ein altes Sprichwort sagt, heilt die Zeit alle Wunden. Sogar bei einem solchen Fall. Mir kommen zwar immer noch manchmal die Tränen, abends vor dem Einschlafen, aber ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass ich glaube, dass alles seinen Sinn hatte. Man kann mich jetzt als bescheuert abstempeln, aber ich glaube wirklich, dass Gott schon weiß, was er tut, auch wenn wir Menschen es manchmal nicht verstehen können. Und um alles noch absurder für manche zu machen, kann ich auch beruhigt sagen, dass ich „froh“ bin, wie alles seine Wendung genommen hat. Der Kleine, der gestorben ist, hat es uns allen relativ leicht gemacht, er ist einfach gegangen, ohne dass wir ihn richtig kennenlernen durften, und somit der Schmerz vielleicht noch größer geworden wäre. Außerdem haben wir jetzt unseren kleinen eigenen Schutzengel, den wir „kennen“, und das kann immerhin nicht jeder von sich behaupten. Außerdem hat mir das ganze Passierte gezeigt, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt, als z.B. über andere wegen Kleinigkeiten lästern und dass es schlimmere Dinge gibt, als Liebeskummer. Davon profitiere ich noch heute, als noch größerer Optimist, der ich schon vorher war. Genau um diese Erfahrungen bin ich reicher geworden durch diese unglücklichen Umstände, und es gibt bisweilen genügend Erwachsene, die diese Erfahrungen nie machen werden. Und dafür bin ich dankbar, und vielleicht war genau das u.a. der Sinn?
Autorin / Autor: stillergirl - Stand: 9. November 2009