Quebre a resistência, tome uma atitude…

Zitronenbuch macht internationalen freiwilligen Friedensdienst und schreibt für LizzyNet, was sie alles dort erlebt.

1 – 2 – 3: Alle Passagiere bitte einsteigen, anschnallen, es warten neben Schauern und Gewitter wahrhafte Sonnenseiten auf Sie: Es geht ein Jahr nach Brasilien. Aber nicht so schnell – oder: ‚calma!‘ wie man temperamentvoll in Brasilien sagen würde.

Bonn – Frankfurt – São Paulo – Porto Alegre – São Leopoldo – Três de Maio

Einmal quer um die Welt und wo bin ich gelandet? Und wer bin ich? Mein Name ist Anna–Karina, 19 Jahre alt und aus Bonn. Ich hatte einen Wunsch, den Traum, als Freiwillige ein Jahr lang in einem sozialen Projekt im Ausland helfen zu können. Seit nun drei Monaten befinde ich mich „vor Ort“ und „in der Pampa“, eine Stadt, die sie nur auf manchen Landkarten finden werden. Denn ich lebe in Três de Maio, einer sympathischen Kleinstadt ganz im grünen Süden Brasiliens, an der Grenze zu Argentinien. Hier herrscht noch Ruhe. Ich sehe die Gaúchos („Cowboys“) am Wegrand reiten, die Röcke, wie sie zu traditionellen Hymnen hin - und hergeschwungen werden und nicht weit entfernt, die scheinbar endlos weiten Felder.

Da arbeite ich

Mitten in den Straßen dieser Stadt liegt ein weißes Gebäude mit einem blauen Schriftzug: Mein Projekt: Die APAE Três de Maio ( ‚Associação de Pais e Amigos dos Excepcionais‘ / Vereinigung der Freunde und Eltern von Menschen mit Handicap ), ein Zentrum für behinderte Menschen aller Generationen mit verschiedensten Behinderungsformen, für Schüler im Alter von 0 bis 60 Jahren. Das Projekt hat wochentags von halb acht morgens bis halb sechs abends geöffnet, so lauten mit Mittagspause inklusive, auch unsere Arbeitszeiten. Es hat über 232 Schüler und über 50 Angestellte. Die APAE hat ihre Einrichtungen in ganz Brasilien erbaut und ist eine Art Schule. Denn unsere Schüler haben neben ihrer Klasse, in die sie eine Tageshälfte gehen, auch Physiotherapie, Logopädie, Musik – und Tanzunterricht. So haben sie Unterricht, werden in ihrem Können gefördert und in ihren Bedürfnissen unterstützt.

Weitere aktuelle Informationen auf

‚Vamos‘(„Auf geht es!“), zu meinem normal – verrückten brasilianischen Alltag:

Es ist halb sieben und der Wecker klingelt: Aufstehen – duschen – Müsli essen und schnell zu unserer Arbeitsstelle. Jeden Morgen freue ich mich auf die Kollegen, die Schüler, den Unterricht, denn: ‚Este amigo que agora esta aqui e meu motivo de ser mais feliz…‘ (oder „Die Freunde, die ich an meiner Seite habe, sind mein Grund (noch) glücklicher zu sein.“) Denn nach dem ersten Einleben liebe ich dieses Leben hier. Die vier Wände von meiner Mitfreiwilligen Isabel aus Köln und mir befinden sich im „Stadtzentrum“. So können wir Briefe verschicken, Einkäufe machen und auch zur Kirche habe ich es zum Gottesdienst nie weit. Ein kleines Häuschen mit 25 Quadratmetern, um darin zu kochen, zu schlafen und die brasilianischen Alltags- und Freizeitstunden darin zu genießen. Neben uns, im Haus des Pfarrers, dürfen wir unsere Wäsche waschen und gefiltertes Wasser holen. Neben der Arbeit gehe ich einmal die Woche abends in den Evangelischen Kirchenchor, in dem wir neben den traditionellen Liedern, auch spanische und deutsche erproben, die wir in den Gottesdiensten zum Besten geben. Zudem laufe ich im wunderschönen Park hier, der die Anstrengungen mit seinem Ausblick auf Palmen und Kakteen für alles entschädigt. Um die Tradition des südlichsten Bundesstaates, in dem ich lebe, auch „spüren“ zu können, tanze ich nun im traditionellen Gewand im Tanzverein mit, in dem die klassischen Gaúchotänze gelehrt werden. Ich wollte gerne etwas Besonderes lernen, wozu ich hier die einmalige Gelegenheit bekomme. Als „deutsche Tanzschülerin“ falle ich ein wenig unter ihren Reihen auf, aber stets steht mir eine helfende Hand zur Seite und es macht so Spaß, dass man nur froh sein und mit den anderen singen und lachen kann. Meine Kollegen sind mir zu Freunden geworden, bei den Schritten in einer neuen Welt, die mir helfen, wenn ich ein Problem oder eine Frage habe, mit denen ich auch lachen und Spaß haben kann. Eine kunterbunt - gemixte Woche wartet auf mich, bei der man nie weiß, was einen genau erwartet. Montags erlebe ich den ganz normalen Schulalltag in einer Klasse mit zehn Kindern im Alter von zehn bis zwölf Jahren mit. Die meisten besuchen am Nachmittag noch eine andere Schule. Wegen ihres Förderbedarfes kommen sie zusätzlich zu uns. Es werden kreative Aktionen mit den Kindern durchgeführt und sie haben „Fächer“ wie Sport, Schwimmen, Tanzen und Musik. Zwischendurch werden die Schüler einzeln zur Physiotherapie, Psychologin oder Logopädie geschickt. So soll sichergestellt werden, dass bei den Schülern sowohl körperlich, als auch in ihrem sozialen Umfeld alles im „grünen Bereich“ ist. Dafür gibt es auch Hausbesuche der Sozialassistenten und allgemeine Arzt – und Friseurbesuche. Dienstags und mittwochs bin ich in der Handarbeit, wo wir kreative Dinge, wie bestickte Medikamententaschen oder bemalte Marmeladengläser für die Weihnachtszeit herstellen. Beim Kochen mit meiner Lehrerin Claudia* an den beiden letzten Wochentagen habe ich immer den größten Spaß. Als Köche fabrizieren wir in der Schülerküche heimische Köstlichkeiten; wie frittierte Nudeln, Marmeladen und Kuchen, die alle für später in meinem Rezeptbuch festgehalten werden. Nach dem Zähneputzen werden Kopfbedeckung und Schürze angezogen. Dann kann es ans Kochen und Backen gehen. Jeder Schüler von uns kann bestimmte Dinge in der Küche gut selbstständig, es wird mitgeholfen und neue Dinge werden erlernt. Ein eingespieltes Team sind wir, das nie seinen Humor verliert, viel miteinander lacht und dadurch eine gute Arbeitsatmosphäre schafft. Abwechslungsreich sind wir auch, denn zwischendurch wir immer mal wieder bei Musik getanzt, gelernt und gebastelt.

Wunderküche

Die Produkte unserer „Wunderküche“ werden bei Festen und Aktionen, wie zum Beispiel dem Benefizdinner der Schule benötigt oder an Interessierte verkauft. Unser Projekt wird durch Sponsoren und deren Spenden „am Leben gehalten“. Deshalb nehmen Aktionen und die allgemeine Öffentlichkeitsarbeit Zeit und Raum ein. Die 25.000 Einwohner und der Umkreis von Três de Maio sollen die Arbeit der APAE kennenlernen und ihre Schüler als einen Teil ihres Lebens wahrnehmen. Dann ist es Mittag und die nächsten Schüler sind voller Energie und Erwartungsfreude, was ‚profe‘ Anna“ heute mit ihnen machen wird.

‚Uma hora, uma hora e meia‘ oder um halb zwei mittags schlägt die Uhr und zehn Schüler, von mir mittlerweile nur noch liebevoll „meine Altchen“ genannt, „stürmen“ in den Klassenraum ganz am Ende des Ganges. Altchen, da sie im Alter von Anfang vierzig bis 60 Jahre alt sind. Alle von ihnen ein Unikat, alle sind sie besonders. Noch ist der Raum leer, das Licht ist aus und die Fenster sind zu. Aber schon bald wird der gesamte Raum voller Leben sein, der Tisch mit Stiften, Papier, Scheren und Kleber gefüllt sein, ein kreatives Chaos: „Betreten auf eigene Gefahr“ sozusagen. Dann höre ich auch schon Stimmen auf dem Flur, Schritte, die Tür wird aufgeworfen: Zuerst bekomme ich ein ‚abraço‘, eine Umarmung mit einem dicken ‚beijo‘, Kuss. Danach bringen die Lehrerin und ich die anderen Schüler in den Raum, einige sind sehr schwer und müssen mit mehreren Leuten beim Gehen gestützt werden. Unsere Gruppe ist wie die anderen Klassen auch bunt gemischt, was die Formen ihrer Behinderung betrifft. Denn eine Differenzierung findet fast nicht statt. So kommen sie zu uns mit ihrer mentalen, körperlichen und sprachlichen Behinderung und geben dadurch oftmals nur Laute von sich. Zudem haben wir einen Mann in der Klasse, der im Rollstuhl sitzt und körperlich deformiert ist. Anfangs hatte ich Probleme ihn zu verstehen, weil er auch sprachbehindert ist. Da er ein fröhlicher und offener Mensch ist, teilt er sich gerne mit und dadurch verstehe ich ihn mittlerweile immer besser.

Kleine Kreativwerkstatt

Die Gruppe leite ich mit Manja, einer anderen Lehrerin. Jeden Tag gestalten wir neue Dinge. Denn meine Schüler haben mehr Talent, als so mancher denkt. Wir sind eine kleine Kreativwerkstatt, die Dinge wie Adventskalender, Bilderrahmen für eigene Fotos und eine Kindergirlande aus Moosgummi bastelt. Diese Dinge schmücken danach sowohl das Klassenzimmer, als auch die Zimmer meiner Schüler zuhause. Von zwei meiner ‚chicas‘ (Mädchen), Amanda und Ina will ich euch näher berichten. Die beiden Schülerinnen sind in den Fünfzigern und besuchen seit drei Jahren unser Projekt. Sie sind Analphabetinnen, haben eine mentale Behinderung und sind durch ihren körperlich geschwächten Zustand öfter krank. Zu ihrem familiären Hintergrund ist zu sagen, dass sie aus einer Familie mit insgesamt vier Kindern stammen. Erst seit ihre Eltern vor einigen Jahren verstorben sind, beginnen die beiden, sich ein eigenes Leben aufzubauen und werden dabei ernstgenommen und unterstützt. Zuvor schämten sich Eltern und Geschwister für die (Behinderung(en) der) beiden und hielt sie zuhause, damit die Öffentlichkeit nichts davon mitbekam. Dadurch fehlt es ihnen heute an Bildung und Förderung, da sie diese bis vor kurzer Zeit nie erhalten haben. Im hohen Alter erschließen sich ihnen nun ganz neue Wege. Mit eigenen Händen die Welt zu ertasten, sich frei zu bewegen und dabei das Gefühl zu haben, von Bedeutung und anderen wichtig zu sein.

Schreiben lernen

Eines unserer Hauptziele ist es, bis zum Schuljahresende, den Schülern, „bei denen noch die Hoffnung dazu besteht“, das Schreiben ihres Namens beizubringen. Das Üben wir nun auf unterschiedliche Weisen: in einem Heft mit Bleistift und durch Gestaltung mit Elementen wie Sand und Ton. Diese Mühe soll der besseren Einprägung dienen. Besonders die beiden benötigen das dringend, da sie selbstständig zu zweit in einer Wohnung leben. Dazu gehören Rechte, aber eben auch formelle Pflichten wie mit Bankgeschäften und ähnlichem Papierkram umgehen zu können, dabei bekommen sie auch von vielen Seiten Hilfe. Dafür sollen sie nun lernen, ihre Unterschrift unter Dokumente setzen zu können. Die Wohnung der beiden wird zum Beispiel von der Stadt finanziert, weshalb sie nur eine geringe Miete zahlen müssen. Die Schule hilft ihnen Arzttermine wahrzunehmen oder eigene Lösungen für solche Fälle zu finden. Leider gibt es gerade in ihrer Familie viel Diskriminierung und Neid ihnen gegenüber, da ihnen das Geld nicht gegönnt wird, was ihnen im Leben mit ihren Behinderungen helfen soll. Heraus aus meinem Alltag wieder zu Ihnen: Es möge Ihnen gut gehen und Sie mögen behütet sein. Vor mir liegen nun noch neun ereignisreiche Monate, von denen ich Ihnen bald schon weiter berichten werde. ‚Beijinho e até logo‘, Küsschen und bis bald, eure Brasilienanna

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Autorin / Autor: zitronenbuch - Stand: 17. Februar 2010