Tenho saudade de você…

internationalen freiwilligen Friedensdienst.
„Ich habe Sehnsucht nach dir…“ - Zitronenbuchs dritter Rundbrief aus Brasilien

Liebe Lizzys,
Poch, poch klopft es an meiner Tür: hereinspaziert. Sind Sie Frau Anna – Karina Klose?
‚Mas claro!‘ – „Aber natürlich!“. Als Brasilianerin der Kleinstadt  noch drei weitere Monate wohnhaft in Três de Maio. Durch diesen Rundbrief öffne ich euch erneut einen Türspalt. Und aus meinem Leben werden Eindrücke aus mir heraus und auf euch zu purzeln.
Dieser Bericht soll euch einen Rückblick auf die vergangenen Monate bieten, die Entwicklung der Kultur, die ich am Beispiel eines Festes hier schildere und meine persönlichen Gedanken und Gefühle näherbringen.

Ihr befindet euch mit mir in den letzten Monaten, Tagen, nahezu schon Stunden…meines Auslandsjahres in Brasilien. Seit meinen letzten Worten an euch ist erneut einige Zeit verstrichen und bestimmt seid ihr neugierig zu erfahren, was seitdem geschehen ist:
Ein Querschnitt: Zwischenseminar, Beginn des neuen Schuljahres in der APAE, Ostern, mein zwanzigster Geburtstag,...

Ich bin nicht alleine

Auf ein Neues in den Bus steigen, fünf Tage lang ging es nach Curitiba, zum Zwischenseminar mit ca. 30 anderen deutschen Freiwilligen in Brasilien, hieß es nach kurzer (Reise-) Pause Ende Februar. Dort trafen wir auf bereits bekannte Gesichter, denn gemeinsam hatten wir zu Beginn des Friedensdienstes ein Seminar mit Sprachkurs in der Nähe von Porto Alegre besucht. Eine geschaffene Gelegenheit, um Ideen und Eindrücke auszutauschen. Das Seminar bestand aus Projektvorstellungen, Ausflügen zu Projekten innerhalb der Stadt (Recyclingprojekt), Museen und Kennenlernen der Innenstadt. Zudem wurden zu vorgegebenen Themen Gesprächsrunden gebildet, ein Film geschaut und die Gruppe an sich gestärkt. Diese Erfahrung zeigte mir deutlich: Ich bin nicht alleine, in jedem Jahr gibt es Höhen und Tiefen. Es gibt nicht ein Projekt, eine Stadt, ein Umfeld, das perfekt ist. Jeder hat mit unterschiedlichen Problemen zu kämpfen, in denen sich gemeinsame Wurzeln und Ansatzpunkte finden lassen. Nach einem kurzen Abstecher nach Florianópolis, zu zwei anderen Freiwilligen, ging es mit dem Bus zurück in unseren Süden. Freunde, Kollegen, Wohnung und Arbeit warteten bereits auf uns.

Die Arbeit – oder: Hereinspaziert in eine neue Welt?

Ist denn nach guten neun Monaten die Arbeitswelt nicht längst bekannt und hat ihre Routine? Während des Seminars und unserer kleinen Reise war die zweite Jahreshälfte angebrochen und in unserem Projekt, der APAE, hatte das neue Schuljahr schon begonnen. Veränderungen standen dann wie immer vor der Tür: Alles bekommt sein neues Gesicht. Die Schüler werden zu anderen Klassen zusammengesetzt, die Lehrer werden diesen wiederum zugeordnet und ein neues System entsteht. Doch für uns hatte die Chefin sich andere Aufgabenbereiche überlegt, die wiederum noch nicht richtig durchdacht waren. Eine der schwierigsten Phasen für mich: Nach langer Zeit musste ich erneut meine Aufgabe im Projekt finden und mich orientieren: Eine Zeit in der Schwebe, der Ungewissheit und des Zweifelns. Statt Hilfe als Lehrerin in festen Klassen hieß es nun: den Materialraum hüten, Kassenbelege zählen, sortieren (aufgrund eines bestimmten Gewinnprojektes in Rio Grande do Sul)und an allen Ecken mithelfen, wo Arbeit anfällt. Dabei hatte ich ein ständiges Gefühl: ich weiß zwar dass, aber nicht wann und wie genau, es weitergehen wird. Umso froher war ich dann, als nach der Rückkehr und Gesprächen der neue Arbeitsplan auf uns wartete: Feste Klassen für die Morgens – und Mittagsschicht und vier feste Klassen für den Englischunterricht. Das waren wieder unsere eigentlichen, spannenden und neuen Aufgaben. Ich war wieder glücklich und freute mich, morgens aufzustehen und zur Arbeit mit den Kindern zu gehen.

So kann man sich meinen Arbeitsalltag seitdem vorstellen

Wenn morgens die Schulklingel läutet, stürmen meine Kleinen (insgesamt sechs im Alter von sechs/sieben) schon umarmend auf mich zu. Das war am Anfang eine komplette Umstellung für mich, denn im Halbjahr zuvor hatte ich hauptsächlich mit Schülern im Alter von 40 bis 60 Jahren gearbeitet. Mittlerweile haben wir uns aneinander gewöhnt und mein neuer Alltag hat an Routine gewonnen. Als erstens werden im Klassenraum gemeinsam die Zähne geputzt, denn viele erfahren zuhause nur mangelhafte Hygiene. Wenn Regeln wie Zähneputzen, Händewaschen und weiteres jedoch als allgemeine Regeln erlernt werden, schämt sich kein einzelner, wenn er bestimmte Dinge bis dahin nicht wusste. Danach werden zuerst die Hausaufgaben der anderen Schule bearbeitet, denn die Mehrheit meiner kleinen Klasse geht mittags in eine „normale“ Schule der Stadt. Dabei benötigen sie oft noch weitere Erklärungen und Hilfe. Besonders schwer fällt es ihnen, sich zu konzentrieren und Dinge über einen längeren Zeitraum im Gedächtnis zu behalten. Körperlich haben sie hingegen nur geringe Einschränkungen und sind – wie normale Kinder – körperlich fit und verspielt. So haben wir bereits Buchstaben – und Zahlenfelder für den Klassenraum gestaltet, um die wichtigen Dinge immer vor Augen zu haben. Die Schreibschrift wird erlernt und Alltagsthemen wie Hygiene durch Bilderbücher und Gespräche behandelt. Denn die Klasse hat den Schwerpunkt Alphabetisierung (Lesen, Rechnen und Schreiben), bei einigen müssen wir jedoch immer wieder beim Erkennen von Farben und richtigem Ausmalen anfangen. Zu Feiertagen werden kleine Kunstaktionen unternommen: Momentan steht der Muttertag vor der Tür und wir gestalten ein Schlüsselbrett für zuhause in Form eines Fisches. Das Positive an dieser Klasse ist: Einige Kinder kennen und mögen sich bereits aus dem letzten Jahr, es herrscht zudem im Allgemeinen Ruhe und dies gibt den Kindern in der kleinen Gruppe eine gute Möglichkeit zum Lernen.

Schritt für Schritt

Zudem gebe ich in vier festen Klassen Englischunterricht. Die Schüler haben das Alter von acht bis Mitte 20 und somit muss ich bei jeder Klasse entscheiden, was im Unterricht behandelt wird. Das bedeutet spielerisch, mit Liedern und kreativen Überlegungen den Schülern eine Idee von einer anderen Sprache zu vermitteln. Einige haben bereits in der anderen Schule ein wenig Unterricht, andere fangen mit mir ganz am Anfang an. Da Brasilien eine große Fläche besitzt und sich die meisten aus ihrem Land, geschweige denn aus ihrem Bundesstaat nie heraus bewegen werden, wird kein Schwerpunkt auf das Erlernen von Fremdsprachen gesetzt. In Deutschland besteht einfach eine höhere Notwendigkeit dazu. Ziel ist es, Eindrücke zu vermitteln und Grundbegriffe wie Zahlen, das Alphabet und kleine Unterhaltungen (Wie geht es dir?) einzuführen, denn im Normalfall wird nur wenig im Gedächtnis bleiben und das richtige Erlernen der portugiesischen Sprache steht an erster Stelle. Schritt für Schritt sehe ich bei einzelnen jedoch, wie sich schon kleine Erfolge abzeichnen.

Willkommen in meiner Mittagsklasse

Nach der Pause heißt es: Willkommen in meiner Mittagsklasse, in der sich die Altersgruppen dann wieder mischen: Die Spanne reicht dabei von drei Jahren bis Mitte zwanzig. Mit Taubstummheit, Autismus und Schülern mit diversen „Krankheitsbildern“ stellt unser Klassenraum eine bunte Mischung dar. Mit ihnen kann man wenig Interaktives machen. Somit sorgen wir vorrangig für das, was sie am meisten benötigen: Hygiene und Pflege. Dazu gehören hauptsächlich Zähneputzen, Haare waschen, duschen, eincremen und Medikamente geben, zudem bietet die Zeit natürlich auch den erwünschten Raum, um zu spielen, turnen und zu malen. Bei aktiven Schülern wie unseren muss man immer offene Augen haben: Sind die beiden Türen verschlossen, sind alle wichtigen Dinge auf den Schrank geräumt, um nicht heruntergezogen und zerstört zu werden? So sind wir als Lehrerinnen stets auf Trab und sagen oft schmunzelnd zueinander: Heute müssen wir auch keinen Sport mehr machen nach der Arbeit. Genau das ist ein positiver Punkt an diesem Beruf: Körperliche Herausforderung, Bereitschaft, Kreativität und purer Abwechslungsreichtum. An keinem Tag weiß man genau, was auf einen wartet und an welcher Stelle man vielleicht einspringen wird. Als Resultat stelle ich fest: Der Plan ist sinnvoll, denn unsere Schüler haben feste Bezugspersonen, wissen an wen sie sich wenden, wem sie vertrauen können und gewinnen an Routine in der Schule. Wir können wiederum noch besser mithelfen, weil wir die Kinder in ihrer Art und ihrem Verhalten desto besser verstehen und kennen, je mehr Zeit wir mit ihnen verbringen.

„Erste Nacht der Talente“

„Kulturschock“ einmal anders oder auch: ‚Primeira noite de talentos‘ – „Erste Nacht der Talente“. Es schrieb den 18. April 2010. Kleinstadt Três de Maio in Südbrasilien. Eine Kulturflut überschwemmte für einen Abend die Stadt. Erst um elf Uhr abends beruhigte sich die Lage wieder und mit vereinten Kräften wurden die Aufräumungsarbeiten gestartet. Es war ein Netzwerk der Generationen, bis zu hundert Personen ergab die Volkszählung des Abends. Als das Licht erlosch, könnte man meinen, es wäre alles nur ein kurzer Spuck gewesen. Der Abend wurde Mitte April zum ersten Mal von der evangelischen Kirche hier veranstaltet. Bereits Wochen zuvor wurde schon in der Kirche verkündet ( „Ein Fest, das man nicht verpassen sollte!“ ). An dem Fest hingen neue Ideen: Ein wertvoller Schatz, der gleich einem kleinen Kind behutsamen Umgang erfahren sollte, da er die Welt erst kennenlernen muss und noch wachsen wird. Das offene Event war eine bunte Kultur – Mischung aus traditionellen Gesängen, Instrumentalbeiträgen und Theaterstücke. Jeder, der ein Talent vorzuweisen hatte, konnte sich zuvor im Sekretariat der Kirche einschreiben. Somit war es am Ende generationsübergreifend und abwechslungsreich. Der Veranstaltungsort war eine große Halle im Zentrum, die sich zwischen der alten und neuen evangelischen Kirche befindet, somit für alle zu erreichen. Eintritt war ein Kilo unverderblicher Lebensmittel, welche später als Spenden verwendet wurden.

Wenn jeder eine Aufgabe übernimmt, können neue Ideen ins Rollen kommen.

Doch wieso Talente? Schlagen wir einmal nach: Talent steht für Begabung. Es soll ein Zeichen gesetzt werden: Ihr seid nicht wertlos, sondern werdet gebraucht! Aus der gemeinsamen Möglichkeit kann Großes und Positives geschaffen werden. Entfaltet eure Fähigkeiten: Nur das, was der Mensch ohne Angst macht, gelingt ihm wirklich gut. Traut euch – lautete somit das Motto. Innerhalb der Kirche gibt es öfter „Machtspiele“ zwischen Einzelpersonen, wie dem Präsidenten und der Leiterin der Frauengruppe OASE. Denn in einer Kleinstadt wie dieser, ist ein jedes Gesicht dem anderen bekannt und alles spricht sich schnell herum. Dies überträgt sich dann als angespannte Stimmungslage auf die Projektgruppen und Gemeindeaktionen. Diskussionen ragen über Missverständnisse und die Gruppe zerklüftet sich. Ein bekanntes Kleinstadtphänomen. Dennoch gibt es auch Abende, die vereinen. Wie zum Beispiel eine “Küchenaktion“, wo die ganze Gruppe gemeinsam Pizzen belegt, um Geld für die Kirche einzunehmen. Der Kulturabend war erneut ein Abend, der den Zusammenhalt und den Blick auf das Wesentliche in unserer Gemeinde bestärken sollte. Uns wurde bewusst: Wenn jeder eine Aufgabe übernimmt, mit anderen zusammen etwas aufbaut, können neue Ideen ins Rollen kommen.

Innerhalb der Kirche ist auch eine „Kultur – Idee“ geplant, die verschiedenen Bereiche mehr miteinander zu verknüpfen. Seit kurzem singt der Chor der Frauengruppe, es gibt Keyboard – und Gitarrenunterricht und die Jugendgruppe ist auch im Gottesdienst aktiv. So wird ein Netzwerk geschaffen: Mehr Bereiche sollen in den Gottesdienst mit einbezogen werden und ihn vielfältiger gestalten.

‚Saudade‘:

Ein beliebtes Wort aus dem Portugiesischen, das in verschiedensten Situationen in aller Munde ist: Es beschreibt Sehnsucht, Heimweh, Wehmut, Melancholie, Erinnerung, Verlangen, tiefe Sehnsucht, nach dem Heimatland Deutschland, nach Familie, Freunden, Bekannten, der Kultur und dem geliebten Gewohntem. Ein Gefühl, das mich manchmal begleitet, aber dennoch nicht auffrisst und nicht vom Genießen des brasilianischen Lebens abhält. Während der Arbeitswoche bin ich die meiste Zeit im Projekt, nebenbei wird der Haushalt gemanagt, die Figur in Form gehalten und Hobbys wie Chor, Gitarre und die Teilnahme an der Jugendgruppe der Kirche werden wahrgenommen. Dennoch gibt es natürlich Tage, an denen die Entfernung mir wieder deutlich vors Auge rückt und ich erstaunt bin, wie viel Zeit bereits vergangen ist. Trotzdem werden noch viele Tage bis zum Wiedersehen in Deutschland vergehen. Mit dem Rahmen von einem Jahr ist der Zeitraum klar und gut gewählt.

...ich komme und hole dich

Und da fliegt das Raumschiff der Zeit auf mich zu: So lange dauert es nicht mehr, ich komme und hole dich. Rückkehr, Seminar, Eingewöhnung, Umzug, Studium,…bitte steigen sie ein und schließen sie die Türen, wird es einmal aufs Neue heißen. Auf in Richtung Zukunft. Sich einer unbekannten Situation stellen. Eine neue Stadt, ein neues Umfeld, eine neue Aufgabe.

Mein Körper in Brasilien, meine Gedanken in Deutschland

Das Gefühl von Zerrissenheit, mit dem Körper in Brasilien, mit den Gedanken teils auf deutschem Boden verweilend, teils fest in roter Gaúchoerde steckend, mein Spagat kann nicht so weit reichen, um beides zu berücksichtigen. Ein Ausblick auf später gibt mir bisher eine noch verschwommene Aussicht: Wie wird es, zurück in Deutschland, sein? Das Projekt, mit den lieb gewonnen Menschen, den Kinder zurücklassen. Zu wissen, es geht weiter, in ihren Leben und auch in meinem. Nicht mehr vor Ort zu sein, den Alltag mit ihnen zu verbringen, in lachende Gesichter zu sehen, gute und schlechte Launen mit zu erleben und Entwicklungen zu begleiten. Werde ich eine „Schockphase“ erleben und wie lange wird es dauern, bis ich mich wieder in meiner Heimat eingewöhne? Wie werde ich zurückdenken an das Jahr? Das sind Fragen, die bereits in meinem Kopf herumschwirren, doch: Ich verweile noch bis Mitte Juli in Três de Maio!

‚Louvado seja o meu senhor‘ – „Gelobet sei mein Herr“, dafür, dass es uns gut geht, er uns behütet, für meine Fußspuren im brasilianischen Sand und für eure als stetige Begleitung an meiner Seite.
Einen lieben Gruß in die Ferne, ein ‚muito obrigada‘ – „ großes Dankeschön“ für eure andauernde Unterstützung und Hilfe in der vergangenen und noch auf uns wartenden Zeit,
eure Brasilienanna

Autorin / Autor: Zitronenbuch - Stand: 26. April 2010